Am 22. April vor 300 Jahren wurde Immanuel Kant geboren, der mit seiner „Kritik der reinen Vernunft“ einen Wendepunkt in der Geschichte der Philosophie markierte. Wenig bekannt ist, dass der Vordenker aus Königsberg beim Nachdenken über den Kategorischen Imperativ und auch sonst gerne ein Glas Weißen aus Grünstadt trank. Auf Spurensuche zwischen Pfalz und Ostpreußen.
Wiederentdeckt hat die Verbindung von Kant und Grünstadt Joachim Specht, der Vorsitzende des Altertumsvereins Grünstadt-Leiningerland, als er in alten Presseartikeln recherchierte. Es ist die beste Werbung, die sich Winzer wünschen können: Obwohl Kant die Pfalz nicht kannte und Ostpreußen niemals verlassen hatte, schätzte der Philosoph den Wein, der in der beschaulichen Grafenresidenz mit damals 2200 Einwohnern gekeltert wurde. So ließ er, der gerne in Gesellschaft speiste und über Alltägliches plauderte, bei seinen legendären Tischrunden Weißwein aus Grünstadt einschenken. Die roten Tropfen stammten aus Frankreich.
„Ich weiß keinen besseren …“
Als Zeuge für diese Behauptung gilt Friedrich Christian Matthiä. Der renommierte Pädagoge und Altphilologe aus Göttingen war von 1789 bis 1804, mit einigen den Revolutionswirren geschuldeten Pausen, Rektor am Leiningen-Westerburgischen Gymnasium in Grünstadt. Ein Jahr vor seinem Tod schrieb er im Januar 1821, nun Leiter eines Gymnasiums in Frankfurt, an seinen Bruder August in Altenburg (Thüringen), mal wieder zum Thema Wein: „Meinerhalben bleibe bei Deinem Würzburger, von dem ich wünsche, daß er Dir bis in Dein 99. Jahr und länger bekommen möge. Ich bin ihm abhold, weil er zu viel Erdiges enthält. Ich weiß keinen besseren Wein zum gewöhnlich Getränk als den Pfälzischen, der auch philosophische Verdienste haben dürfte, sintemal Herr Kant immer seinen Wein von Grünstadt kommen ließ, wodurch denn zuletzt die „Kritik der reinen Vernunft“ zustande kam.“
Zitiert hat diesen Brief 1936 der Historiker Albert Becker in einem Artikel für die Pfälzer Presse. Becker, 1879 in Speyer geboren und 1957 in Heidelberg gestorben, gilt als Begründer der wissenschaftlichen Volkskunde der Pfalz. Etwas skeptisch kommentierte er den Brief, hielt es für möglich, dass Matthiä gescherzt hatte und meinte: „Wir wollen es den Grünstadtern überlassen, Kants Weinrechnungen ans Licht zu ziehen.“
Nach dem Krieg nahm der Gymnasialprofessor und Heimatforscher Hans Feßmeyer (1886-1956) die Fährte auf: In Beiträgen für die Grünstadter Zeitung und den Amtsanzeiger stellte er 1949 und 1950 fest, dass es keine Ursache gibt „daran zu zweifeln, daß der Bericht des Rektors Matthiä wahr ist“. Er legte auch dar, wie es dazu kam, dass Kant Wein aus Grünstadt trank: Der Grünstadter Kaufmann Johann Conrad Jacobi (1717-1774) war 1750 nach Königsberg gekommen, damals eine dynamische Handels- und Universitätsstadt mit 50.000 Einwohnern. Jacobi gehörte bald zum Freundeskreis des Philosophen, und durch diese Beziehung avancierte sein Bruder Johann Jacob Jacobi (1722-1793), in Grünstadt Winzer und Wirt im Gasthaus „Zur Goldenen Krone“, zum Weinlieferanten von Kant.
Erst Barbier, dann Winzer
Nachdem Joachim Specht 2009 den alten Text von Becker entdeckt hatte, recherchierte er weiter und legte einen Wikipedia-Artikel über Johann Conrad Jacobi an. Die Kontakte zwischen Kant und dieser Grünstadter Familie sollten nicht wieder in Vergessenheit geraten, berichtete dieser Tage der 63-Jährige, der seit rund 25 Jahren im Altertumsverein Mitglied ist. Ergänzt wird das Porträt seit knapp zehn Jahren zudem von einem weiteren Beitrag im Internet auf der Seite www.freunde-kants.com, in dem der Kunsthistoriker Thomas Gädeke aus Flensburg über die Jacobis aus Grünstadt schreibt, die zu seinen Vorfahren zählen. Eine Kantsche Weinrechnung gehört zwar nicht zu den Dokumenten, die der 70-Jährige besitzt, dafür aber das Familienbuch, das Johann Friedrich Jacobi (1675-1759) ab 1709 in Grünstadt führte.
Der Vater des Kant-Freundes Johann Conrad Jacobi war von Westerburg, wo er als Sohn des lutherischen Pfarrers Johann Bathasar Jacobi (1641-1719) geboren wurde, in das Städtchen an der Haardt gekommen. Als Kammerdiener, Barbier und Chirurg diente er den Grafen, wurde auch Weinbergsbesitzer, bewirtschaftete 1709 acht Morgen Weingarten. Er war zweimal verheiratet und hatte elf Kinder.
Johann Conrad, der dann im fernen Königsberg Karriere machte, war der erstgeborene Sohn aus der Ehe des Grafendieners mit Sybille Elisabeth geborene Grün (1696-1768), Tochter eines Grünstadter Wirts und Weinhändlers, die sicherlich auch ein paar Weinberge als Mitgift einbrachte. Nach einer Kaufmannslehre in Frankfurt arbeitete Jacobi für einen Berliner Bankier, der den 33-Jährigen nach Königsberg schickte – zu seinem Geschäftsfreund Georg Friedrich Schwinck, den reichsten Handelsherren der Stadt. Jacobi blieb dort, gründete 1751 eine Im- und Exportfirma, die bald europaweit Handel betrieb, wie das erhaltene Geschäftsbuch der Jahre 1751 bis 1753 belegt. Zwei seiner Brüder übersiedelten später ebenfalls nach Königsberg: Johann Wilhelm (1724-1799) pachtete den Altstädter Ratskeller und führte eine Weinhandlung, bei der Kant Kunde wurde. Georg Ernst Christmann (1728-1789) hingegen arbeitete als Schiffsmakler.
Schöne Gattin auf Abwegen
Auch privat schien Johann Conrad Jacobi das große Los gezogen zu haben. Im Sommer 1752 hatte der Mittdreißiger Maria Charlotta geheiratet, das einzige Kind des reichen Patrizierpaares Schwinck. Das Geburtsjahr der Braut ist nicht eindeutig überliefert, wird mal mit 1739 oder 1735 angegeben, wobei das letztere plausibler scheint. Das junge Paar bezog erst ein Haus aus der Mitgift, erwarb später ein prächtiges Palais, das zum Mittelpunkt geistvoller Geselligkeit wurde. Zu den eifrigsten Bewunderern der „lebenssprühenden, schönsten Frau Königsberg“ gehörten Kant und dessen Freund Münzmeister Johann Julius Göschen. Im Nachlass des Philosophen fanden sich sogar freundschaftlich-vertraute Briefchen der „Prinzessin Jacobi“, wie die Königsberger Maria Charlotta nannten.
Es waren erfolgreiche Jahre für Jacobi, der weiter geschäftlich expandierte, eine eigene Bank gründete. Privat gab es auch Trauriges, zwei Töchter starben bald nach der Geburt, weitere Kinder blieben dem Paar versagt. Dann der Skandal: Ehefrau Maria Charlotta begann ein Liebesverhältnis mit dem 32 Jahre alten Münzmeister Göschen, im September 1768 dann die Scheidung. Ein Jahr später heirateten die zwei im kleinen Kreis, wurden Eltern von vier Kindern und führten ein gastliches Haus, in dem sich auch nach und nach wieder die gute Gesellschaft einfand. Doch Kant schlug alle Einladungen aus, hielt es moralisch nicht für vertretbar, gleichzeitig mit Göschen und Jacobi befreundet zu sein. Erst nach dem Tod des Bankiers im August 1774 hob der Philosoph den Bann auf.
Nachdem Jacobi keine Nachkommen hatte, bestimmte er zum Alleinerben seinen Neffen Friedrich Conrad Jacobi (1752-1816), Sohn des Kronenwirts in Grünstadt. Nächster Inhaber der Firma war der Kaufmannssohn Johann Christian Gädeke, der 1783 aus Lübeck gekommen war, um im Bankhaus zu arbeiten. Er heiratete 1804 die Tochter seines Prinzipals und führte nach dessen Tod 1816 das Geldhaus erfolgreich weiter. Zusammen mit seinem Schwiegervater und anderen Kant-Vertrauten hatte er zudem 1805 die Gesellschaft der Freunde Kants gegründet, nachdem der Professor mit 80 Jahren gestorben war Das Bankhaus Johann Conrad Jacobi, dessen letzte Inhaber die Brüder Konrad und Robert Gädeke waren, existierte bis 1915 und wurde dann in die Ostbank überführt.
Noch vor dem Ersten Weltkrieg verließ die Familie Gädeke Königsberg, zog nach Niedersachsen und konnte daher viele Erinnerungsstücke bewahren. So gibt es in Familienbesitz vier Jacobi-Porträts aus dem 18. Jahrhundert, Werke des in Ebertsheim bei Grünstadt geborenen Malers Johann Adam Schlesinger (1759-1829). Ein Bild der schönen Maria Charlotta findet sich nicht bei den Erbstücken. Kunsthistoriker Gädeke vermutet, dass es wohl ein Pendant zum Porträt ihres Ehemannes gab, das Wilhelm Beckly 1761 gemalt hatte. Er nimmt an, dass es nach der Scheidung mit in die neue Familie ging.
Revolutionäres aus Grünstadt
Mit dem Leben der Jacobis und der Gädekes in Königsberg ist die Historie der Familie jedoch noch nicht zu Ende erzählt. Auch in Grünstadt wurde große Geschichte geschrieben: Der Kronenwirt Johann Jacob Jacobi sympathisierte mit der Französischen Revolution und gehörte mit seinen Schwiegersöhnen Karl Parcus und August Moßdorff zu den ersten Verbreitern der republikanischen Ideen. Von Moßdorff, der in der Franzosenzeit, 1797 bis 1804, einer der führenden deutschen Jakobiner war, besitzt der Altertumsverein rund 300 Briefe, Geschenk einer Nachfahrin des Revolutionärs. Das Institut für Landeskunde an der Universität Mainz hat sie mittlerweile vor Ort im Museum gescannt, jetzt werden sie transkribiert und sollen bald als Buch erscheinen. Die Historiker hoffen auf neue Erkenntnisse über die Zeit der Mainzer Republik.
Weitere Quellen
Karl Vorländer: „Immanuel Kant – Der Mann und das Werk“, 1911, 1921; Immanuel Kant: „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“; Borowski, Jachmann, Wasianski: „Immanuel Kant – Ein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen“, 1974.