Ich widme diese Skizze dem Jubiläum von Erich Jurjewitsch Solowjow, Kantforscher von Weltklasse, glänzender satirischer Poet und langjähriger Freund
Unter den Vorurteilen, an deren Anwachsen sowohl die Urheber als auch die Leser philosophischer Werke in gleicher Weise teilhaben, und ebenso auch diejenigen, die Philosophie lernen und die sie unterrichten, ist eins der am weitesten verbreiteten: Die Philosophie und das gewöhnliche, alltägliche Leben sind angeblich so weit von einander entfernt wie der Himmel und die Erde. Eine aufmerksame, auf umfangreiches Material gegründete Analyse des Lebens und Schaffens hervorragender Philosophen widerlegt indessen nicht nur dieses gängige Vorurteil, sondern erlaubt es auch, die erstaunlichen Wege und Besonderheiten aufzuzeigen, durch die das alltägliche Dasein und der freundschaftliche Umgang von Menschen, die höchst abstrakte, verfeinerte philosophische Konzeptionen erschaffen haben, auf die Philosophie einwirken.
Um sich von der Richtigkeit dieser Bewertung zu überzeugen, genügt es, einzelne Seiten aus der Geschichte des Lebens und des Schaffens von Immanuel Kant durchzublättern, eines deutschen Philosophen, der für alle Zeiten und für alle Völker bedeutsam ist. Drei aktuelle Anlässe betonen die Zweckdienlichkeit einer solchen „vergegenwärtigenden“ Erinnerung. Der erste ist: Am 22. April 2014 jährt sich zum 290. Mal der Geburtstag Kants. Der zweite Anlass: Gerade in unserem Land haben die konkreten historischen Materialien und Anlässe, die in dem nachfolgenden Artikel benutzt werden, noch nicht den Weg zu einem weiten Kreis von interessierten Lesern eröffnet. Es wäre wünschenswert, diesem Mangel möglichst abzuhelfen. Der dritte Anlass: Die hier vorgelegte Untersuchung ist durch die sehr interessante Tatsache angeregt worden, dass seit einigen Jahren in der Heimatstadt Kant die internationale „Gesellschaft der Freunde Kants und Königsbergs“ neu belebt worden ist und insbesondere dadurch, dass sie regelmäßig in der Geburtsstadt Kants an seinem Geburtstag zu einer Sitzung zusammenkommt1.
Lassen Sie uns einzelne Seiten aus der Geschichte des Lebens und Schaffens Immanuel Kants (1724–1804) durchblättern, aus der wir ihre erste Hälfte auswählen, genauer – die 60er Jahre des 18. Jahrhunderts.
I.
1760
Ich erinnere daran, dass Kant um diese Zeit Werke schrieb, in denen er sich einzig mit der philosophischen und naturwissenschaftlichen Betrachtung der Natur befasste und damit schon eine gewisse Bekanntheit erlangte. Er legte drei Dissertationen vor, die dem Philosophen grundsätzlich den Weg zur akademischen Lehrtätigkeit eröffneten. Für uns sind hier einige kleine Werke Kants von Interesse, in denen er schon Fragen von allgemeiner Bedeutung zum Sinn des Lebens aufwarf. Das ist z. B. der Fall in dem ganz kurzen Werk Versuch einiger Betrachtungen über den Optimismus (1759).
Der Haken ist allerdings, dass Kant selbst, wie die historischen Fakten bezeugen, sich in der Folge abweisend zu dieser Schrift verhielt und sich sogar dafür aussprach, sie nicht als Bestandteil seiner Werke zu erwähnen. Nach ihm haben auch Kant-Forscher (z. B. Kuno Fischer) den „Versuch“ bestenfalls in die Abteilung „Zweitrangige Werke“ eingeordnet. Wie ich glaube, wäre es heute aber zweckmäßig, solche Arbeiten, selbst wenn sie unvollkommen sind, aus einem etwas anderen Gesichtspunkt anzusehen. Man sollte nämlich in Betracht ziehen, dass das Thema des „Versuchs“ zu seiner Zeit in hohem Maße sowohl Philosophen, als auch viele denkende Leser in verschiedenen Ländern interessierte, wobei die Schrift das Interesse an Religion, Philosophie, Literatur und Kultur in weitem Sinne gleichsam wachrief. Und was für unseren Blickwinkel besonders wichtig ist: Sie berührt auf unmittelbare Weise das alltägliche Dasein der Individuen, unabhängig von dem Grad ihrer Teilhabe gerade an der Philosophie. Es ist durchaus kein Zufall, dass die Berliner Akademie der Wissenschaften schon im Jahre 1753 einen Preis für die beste Arbeit nach Motiven des Ausspruchs des damals bekannten englischen Dichters Pope ausschreib: Alles ist gut. Wie bekannt, war das verbunden mit der „Theodizee“ des in Deutschland und der ganzen Welt weit bekannteren Leibniz (1710), der die These aufstellte, diese Welt sei „die beste aller Welten“. Im Jahre 1755 wurde eine auf ihre Art kollektive Arbeit veröffentlicht, ein Sammelband aller Werke, die im Wettbewerb für den genannten Preis eingereicht wurden (Dissertation qui a remporté le prix proposé par l’Académie royale des sciences et belles lettres de Prusse sur l’optimisme). Kant kannte diese Veröffentlichung gut; das zeigt seine Bezugnahme auf die darin enthaltene Arbeit des deutschen Philosophen A. F. Reinhardt, des Nachfolgers von Crusius. Ich werde dieses Werk nicht näher analysieren und führe daraus nur eine kurze Aussage Kants an, in der seine Einstellung deutlich wird, die für sein ganzes Leben und seine Philosophie höchst wichtig und formgebend war:
Man bedient sich der Weltweisheit sehr schlecht, wenn man sie dazu gebraucht die Grundsätze der gesunden Vernunft umzukehren…2.
Dass Kant hier vielen seiner hervorragenden philosophischen Vorgänger und Zeitgenossen der Philosophie der Aufklärung im Ganzen die Hand ausstreckt, ist ganz offensichtlich. Bemerkenswert ist aber auch etwas anderes: Auch in der Jugend strebte er danach, die Philosophie mit dem „gesunden Menschenverstand“ der Individuen ins Einvernehmen zu bringen, mit ihrer wirklichen Lebenserfahrung.
Unsere grundsätzliche Aufmerksamkeit wird hier auf ein anderes Werk Kants aus dieser Periode gerichtet, das von den Interpreten ebenfalls in die Abteilung „Zweitrangige Werke“ eingeordnet wird. Es ist eine kleine Arbeit (zehn Seiten) mit dem Titel Gedanken bei dem frühzeitigen Ableben des Hochwohlgebornen Herrn Johann Friedrich von Funk (1760).
Für unser Thema stellt diese Arbeit ein „exemplarisches Beispiel“ (wie die Deutschen sagen) dafür dar, wie sich im Denken Kants schon seit früher Zeit in erstaunlicher Weise die den Sinn des Lebens betreffenden, die existentiellen und die philosophischen Ausmessungen verschmolzen haben. Die höchst wichtige Rolle einer solchen Einheit in der philosophischen Erfahrung des großen Kant, den man üblicherweise eher in einem szientistischen Sinne versteht, wird ungenügend zur Kenntnis genommen, und zwar nicht nur in unserem Lande, sondern auch in der Kant-Literatur weltweit.
Mit dem Helden dieses kleinen Werks, seinem jungen Freunde v. Funk, hat Kant seine Leser nach dessen Tod in dieser Gedenkskizze selbst bekanntgemacht3.
Kant beschrieb mit offensichtlicher Sympathie die ihm nahen menschlichen Charakterzüge und den Lebensstil.
Aber das Wichtigste hier ist, wie lebendig, rührend und originell Kant seinem Werk die Form eines Briefs an die Mutter des Verstorbenen gab. Es gibt da eine offenbare Verbindung mit dem eigenen alltäglichen Leben Kants, mit seinen frühen, aber tiefen Eindrücken. Zusammen damit findet sich in der Skizze schon der Ausdruck allgemeiner objektiver Strukturen der menschlichen Subjektivität, die aus dem Dasein der Alltäglichkeit selbst hervorgegangen, durch die eigene Erfahrung hindurchgegangen sind und danach ihre Ausprägung in den Verallgemeinerungen und Kategorien der Philosophie gefunden haben. Ich betone erneut, dass in den historisch-philosophischen und überhaupt philosophischen Arbeiten die damit verbundenen Aspekte durchaus ungenügend ausgearbeitet sind. Dennoch haben wir etwas, worauf wir uns stützen können, darunter in den vorhandenen biographischen Werken.
Im Weiteren werde ich mich konkret auf die biographischen Werke beziehen, vor allem auf diejenigen, die von Zeitgenossen Kants verfasst sind, den Zeugen verschiedener Perioden seines Lebens. Insbesondere in dem Buch unter dem Titel „Immanuel Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen” sind im Jahre 1993 die Biographien neu veröffentlicht worden, die L.E. Borowski, R. B. Jachmann und E. A. Ch. Wasianski geschrieben haben4. Unter ihnen ist für uns die biographische Arbeit Wasianskis «Immanuel Kant in seinen letzten Lebensjahren» besonders interessant, die im Jahre 1804 unmittelbar nach dem Tode Kants erschien. Darin enthalten sind zudem viele wertvolle allgemeine Zeugnisse über die Lebensweise, das alltägliche Dasein, die Gewohnheiten, die Freunde Kants usw. So interessant gerade für unser Thema, so schwierig für eine glatte russische Übersetzung ist jedoch der Untertitel des Buchs: „Ein Beitrag zur Kenntniβ seines Charakters und häuslichen Lebens aus dem täglichen Umgange mit ihm”. Der Sinn des Untertitels und sogar einzelner Wörter ist in unserem Kontext äußerst wichtig. Gemäß diesem Untertitel strebte Wasianski danach, einen „Beitrag zur Kenntnis“, zum Verständnis des „Charakters und häuslichen Lebens“ Kants basierend auf „dem täglichen Umgange mit ihm” zu liefern.
Im Einzelnen widmete der Königsberger Diakon E. A. Ch. Wasianski eindrucksvolle Seiten seines Buchs den Erinnerungen Kants an die Persönlichkeit und den Charakter seiner Mutter (darüber hörte Wasianski etwas zum Teil von Kant selbst in Stunden besonders vertraulicher Gespräche, zum Teil von seiner Schwester). In den persönlichen Eigenarten seiner Mutter empfand und erkannte Kant schon früh das, was er danach in seinen philosophischen Werken den besten menschlichen Zügen zurechnete. Das waren natürlicher Verstand (S. 222 im Text Wasianskis), eine unbedingte Redlichkeit, Wahrheitsliebe (sie war “eine durchaus rechtliche Frau”), eine Gegnerin der Lügenhaftigkeit, da aus ihrem Munde keine einzige Lüge ging (S. 223), Treue zu ihrer mütterlichen und menschlichen Pflicht; Weichheit, Zärtlichkeit (die Mutter nannte ihren Sohn liebkosend „Manelchen”, eine zärtliche Kurzform von Immanuel), sie pflanzte ihrem Sohn Liebe zur Natur und sogar Interesse am Bau des Himmels ein. Die kursiv gesetzten Wörter bewahrten gleichzeitig sowohl die persönlichen Eigenschaften des für Kant liebsten Menschen als auch die grundlegenden Themen, die Kategorien seiner Philosophie.
Hier finden sich die tiefen Ursachen und das volle Verständnis dafür, welches “schmerzliche Beileid” nach dem frühzeitigen Tod des 22jährigen J.F. v. Funk, des “hoffnungsvollen jungen Herrn” (Worte Kants) diejenigen überkommen musste, die mit ihm “durch nähere Bande verknüpft waren”. Und vor allem natürlich seine untröstliche Mutter. Und deshalb bedeutet auch die Tatsache viel, dass Kant sein Urteil über diesen Menschen in einem (schon vorher für die Veröffentlichung bestimmten) Beileidsschreiben an die Mutter des Verstorbenen abgab. Denn alles zeugt nicht nur von dem Zartgefühl, der Feinheit Kants als Mensch, sondern auch davon, wie früh er sich der zentralen Bedeutung für das Erdendasein nicht nur des überirdischen kosmischen Lebens, sondern auch des persönlichen „kleinen Kosmos“ bewusst wurde, ihrer Bedeutung auf dem Weg zu philosophischen Verallgemeinerungen, die so hohe abstrakte Kategorien wie „Mensch“, „Leben und Tod“ betreffen. Eine derartige Verschmelzung war mehr als charakteristisch für das Philosophieren Kants, beginnend mit den frühen Abschnitten und bis zum Ende seines schöpferischen Lebens. (Aber das ist schon eine Errungenschaft der Literatur und Philosophie der Epoche der Aufklärung.) Der frühe Kant, Verfasser eines anscheinend privaten Beileidsschreibens, wäre nicht Kant, wenn er darin nicht seine einfachen und verständlichen philosophischen Erwägungen ausgesprochen hätte, die sich auf die Lebensorientierungen, nämlich die Sinnfragen des Lebens beziehen. Ich zähle sie kurz auf.
Das sind erstens die in keiner Epoche (vielleicht besonders in unserer) ihre aufklärerische Bedeutung verlierenden kantischen Ideen über die Verderblichkeit der Eitelkeit der Eitelkeiten, den „ungestümen Lauf”, die „leichtsinnige Achtlosigkeit”, die das Leben der Menschen erfüllen, anstelle der Sorge für eine ruhige Heiterkeit der Seele…
Ausdrucksvoll und nahe am Kontext des alltäglichen Daseins vergleicht Kant unser Leben einer „Brücke, welche die Vorsehung über einen Teil des Abgrundes der Ewigkeit geschlagen hat“5. Wir, die wir uns für einen „Augenblick“ der kosmischen Zeit auf dieser Brücke befinden, sind es, die – so stellt Kant bitter fest – gewissen Wasserblasen nachlaufen. Jeder kann leider an sich selbst nachprüfen, wie Recht der große Philosoph hat.
Zweitens lenkt Kant die Aufmerksamkeit auf einen anderen Widerspruch, der uns Menschen gut und im Alltag bekannt ist: Obwohl den Menschen „unter allen Übeln vor dem Tode am meisten grauet, so scheint er doch auf das Beispiel desselben bei seinen Mitbürgern sehr wenig Acht zu haben …“ (Ebenda, S. 40). Und gleich macht er noch eine genaue und ebenso bittere Anmerkung über die Perioden von Kriegen und anderen sozialen Erschütterungen, wenn eine „kaltsinnige Gleichgültigkeit“ der Individuen dem Tode anderer Menschen und überhaupt dem Schicksal ihrer Mitbürger gegenüber eine alltägliche Tatsache wird.
Der Freund oder auch der Verwandte [ ] spricht zu sich selbst: Ich befinde mich im Getümmel von Geschäften und im Gedränge von Lebenspflichten, und mein Freund befand sich vor kurzem auch in denselben, ich genieße meines Lebens ruhig und unbekümmert, aber wer weiß, wie lange?
Solche existentiellen Überlegungen über den Tod, die typisch für verhältnismäßig junge Menschen sind – ohne Bezugnahme unmittelbar auf Kant – finden wir gleichsam wiederholt in vielen Werken der Weltliteratur. (Am meisten muss man an die wahrhaft paradigmatische Erzählung L. Tolstojs erinnern: „Der Tod von Iwan Iljitsch“.) Das zeugt von ihrer lebensnahen, dabei übergeschichtlichen, existentiellen Verwurzelung, und am besten konnte sie gerade die Philosophie festhalten.
Drittens macht Kant in der hier analysierten Briefskizze ein selbstbiographisches Eingeständnis, das für unsere Problematik ebenfalls wichtig ist, weil es auf das Thema der Freundschaft zentriert ist:
Ich vergnüge mich mit meinen Freunden (Ebenda, S. 40).
Zu Recht und genau: Kant verstand es, Freundschaft zu halten, er war seinen treuen Freunden ebenso treu und nahm sich den Tod derjenigen ihm nahestehenden Menschen, die früher als er aus der Welt gingen, sehr zu Herzen. Eine Bestätigung dessen werden wir auch im Lichte einiger späterer Seiten seines Lebens und Schaffens finden.
II.
Versetzen wir uns im Geist in die Mitte der 60er Jahre des XVIII. Jahrhunderts.
„Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen” (1764), „Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral” (1764), „Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik” (1766), wie auch den eigentümlichen Abschluss in Form seiner auf Latein geschriebenen Dissertation des Jahres 1770 „De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis“ („Von der Form der Sinnen- und Verstandeswelt und ihren Gründen“) sind alles philosophische Werke, die – im Unterschied zu dem anfänglichen Abschnitt des kantischen Schaffens, wo das Interesse an der Natur vorherrschte – überwiegend den Problemen des Menschen, der Religion, ethischen und ästhetischen Fragen, den Rätseln und Schwierigkeiten der menschlichen Erkenntnis zugewandt sind.
Maßgebliche Biographen verknüpfen diese augenscheinliche Wende in der Problemstellung nicht ohne Grund mit der Tatsache, dass Kant am 22. April 1764 die Schwelle des 40. Jahres seines Lebens überschritt. Wie sich später herausstellte, stand es ihm bevor, noch ebenso viele Jahre zu leben und dabei die folgenden vierzig Jahre so fruchtbar und würdig zu durchlaufen, dass er – ein schon ziemlich bekannter Philosoph und populärer Dozent – zu einem Denker wurde, der groß war unter den Großen, wie ihn auch seine Nachkommen kennen. Aber im Alter von vierzig Jahren versenkte sich Kant in schwierige, den Sinn des Lebens betreffende Überlegungen und Zweifel.
Was war ihre Ursache? Sie wurden vor allem dadurch hervorgerufen, wie der Philosoph selbst die Schwelle von 40 Jahren im Leben eines Menschen einschätzte. „Seiner psychologischen oder anthropologischen Theorie zufolge“, schreibt M. Kühn, „ist das vierzigste Jahr von höchster Wichtigkeit.“6.
In diesem Alter, so glaubt Kant, muss ein Mensch schon die Reife erlangen, sowohl beim Gebrauch seiner Vernunft als auch in Bezug auf seine Beziehungen zu anderen Menschen.
… in Ansehung der Klugheit ist es das vierzigste Jahr, in dem wir zur Reife gelangen. Und was noch bedeutsamer ist, Kant war der Ansicht, dass wir einen Charakter endgültig in unserem vierzigsten Jahr erwerben (M.Kühn, S. 174)
Wenn er eine vorläufige Bilanz seines Lebens zog, war Kant damit zufrieden? Offensichtlich empfand er keine volle Befriedigung.
Einige Kant-Forscher gehen sogar davon aus, dass Kant in dieser Zeit auf seine Art eine „Lebenskrise“ durchlebte. Dazu trug eine ganze Reihe von Lebensumständen bei, bemerkt M. Kühn. Betont werden muss zuerst, dass sich der Kreis von Freunden, der sich früher um Kant gebildet hatte, dramatisch veränderte. Im Wesentlichen erlosch die Freundschaft mit dem damaligen Studienfreund und jetzigen Universitätskollegen G. D. Kypke (1723–1779)7, einem Fachgelehrten für orientalische Sprachen und Englisch. Kypke verlor plötzlich die Lust am intellektuellen Umgang; er ergab sich mit Begeisterung, schon im eigentlichen Sinne des Wortes, „der Pflege seines Gartens“. Kurz vor dem vierzigsten Lebensjahr Kants starb plötzlich sein damals engster Freund Johann Daniel Funk (das ist schon der zweite Freund Kants mit diesem Familiennamen), der Rechtswissenschaft gelehrt hatte; sein Tod verdüsterte das vierzigste Lebensjahr Kants.
Aber wenn es eine Krise gab, dann hat Kant sie ziemlich schnell überwunden. Zudem vertritt der erwähnte Biograph, Kant-Forscher und -Theoretiker M. Kühn die Ansicht, dass um diese Zeit „der neue Immanuel Kant“ geboren wurde (M.Kühn, S. 181).
Woraus bestand und wodurch bestätigte sich diese Lebens-Wiedergeburt? Eine Reihe von Faktoren betrifft solche Grundbedingungen, die für das Leben eines jeden Menschen vorrangig sind, besonders eines so schwächlichen wie Kant, und mit der Gesundheit zu tun haben. Wenn nicht buchstäblich an der Schwelle seines Alters von 40 Jahren, so war es doch ungefähr in der Mitte der 60er Jahre, dass Kant es auf eine oder andere Art lernte, seinen schwachen Organismus ganz erträglich zu steuern, und zwar dank einer wahrhaft philosophischen Beziehung zu ihm. Aufgrund von Selbsterkenntnis und Selbstbeobachtung verstand es der Philosoph, die Funktionen seines im Allgemeinen schwachen Körpers vorteilhaft mit denen seines starken Geistes und Verstandes in Einklang zu bringen. Zur Bestätigung verweist Kühn vor allem auf die Aussage von Kant selbst:
Ich habe wegen meiner flachen und engen Brust, die für die Bewegung des Herzen und der Lunge wenig Spielraum läßt, eine natürliche Anlage zur Hypochondrie, welche in früheren Jahren bis an den Überdruß des Lebens grenzte. Aber die Überlegung, daß die Ursache dieser Herzbeklemmung vielleicht bloß mechanisch und nicht zu heben sei, brachte es bald dahin, daß ich mich an sie gar nicht kehrte, und während dessen, daß ich mich in der Brust beklommen fühlte, im Kopf doch Ruhe und Heiterkeit herrschte. (M.Kühn, S. 181).
E. J. Solowjow hat in seiner glänzenden Skizze – mit einem im gegebenen Fall ausdruckvollen Titel, der die den Russen bekannten poetischen Zeilen wiederholt „Möge Gott mich nicht den Verstand verlieren lassen …“ gezeigt, wie all das im Verlauf von Kants Leben mit der Besorgtheit des Philosophen nicht nur über seine physische, sondern auch seine seelische Gesundheit verflochten war und wie sehr alle solchen täglichen Besorgnisse sich in der „Anthropologie“ Kants verkörperten8.
Kant ging völlig zu Recht davon aus, dass alle diese Probleme, wenn man sich mit dem Wort eines späteren Autors, Friedrich Nietzsche, ausdrückt, „menschlich, allzu menschlich“ sind … und dass „die Aufklärung des Nächsten”, die aus der persönlichen Erfahrung hervorgeht, Pflicht der Gelehrten, der einfach klugen Menschen sei. Und deshalb beschloss er, dass auch ein Philosoph den Menschen nach Möglichkeit helfen solle, diese ihre schon grundlegende Alltäglichkeit zu beherrschen, indem er ihnen seine Erfahrung mitteilt.
Die geregelte Lebensweise, die Kant einhielt, war vielleicht nur eine einfache und schlichte Form der geistigen Hygiene, aber es ist nicht uninteressant zu bemerken, daß Kant es für erforderlich hielt, sie anzuwenden. Es war ein Vorgehen, das nicht aus Müßiggang, sondern aus der Not geboren war (M. Kühn. Ibidem, S. 184).
M. Kühn fügt zu Recht hinzu, dass die Methoden, seine Gesundheit zu erhalten, anderen auch zum Zweck der Aufklärung in besonders produktiver Weise empfohlen werden können, wenn und insofern sie sich im Laufe eines langen Lebens herausbilden, wie es bei Kant der Fall war. Kenner braucht man nicht daran zu erinnern, was dem breiten Publikum kaum bewusst ist: Die Gesundheit war deine der Hauptlinien der Lehre Kants, die eine ganze Reihe seiner bekannten Werke zusammenfasste. Und es gibt nicht wenige Zeugnisse von Menschen, die das eine oder andere kantische Werk gelesen und daraus nützliche Kenntnisse für ihre Gesundheit gezogen haben9.
Ich bin mit M. Kühn völlig darin einverstanden, dass die Erfahrung Kants, seine Lebenskrise zu überwinden, die den Denker damals und später zu philosophischtheoretischen Überlegungen anregte, mit dem glücklichen Umstand verbunden war, dass sich gerade in den Jahren 1764–65 um Kant eine neuer Kreis von Freunden bildete oder eher diejenige enge Gemeinschaft, die man in Deutschland „Tischgesellschaft” nannte. Die wörtliche Übersetzung dieses Ausdrucks aus dem Leben in die russische Sprache – ein Personenkreis, der sich zum Mittagessen versammelt, oder kürzer, Tischgenossen (gröber: Zechbrüder), umso mehr aus rein russischen Assoziationen – muss man verwerfen, denn er trägt nicht zum Verständnis der tiefen individuellen und sozialhistorischen Bedeutung des Phänomens bei, das als „Tischgesellschaft” bezeichnet wird. Jetzt wenden wir uns eben dieser Erscheinung zu.
Über die sozialhistorische Bedeutung des Begriffs „Tischgesellschaft” und „Tischgenossen” im Deutschland des XVIII. Jahrhunderts (am Beispiel des Kreises der Freunde Kants)
Ich bin mir bewusst: Diese Wendung in meiner Untersuchung mag denjenigen Lesern – besonders russischen – etwas ungewohnt erscheinen, die nicht über die in Europa ziemlich bekannten sozial-philosophischen und soziologischen Untersuchungen informiert sind, die man in der zweiten Hälfte des XX. Jahrhunderts gemacht hat und die kommunikative Strukturen betrafen, die marginal und privat erscheinen konnten, jedoch sich als historisch bedeutsam erwiesen. Es wurde der Beweis erbracht, wie tief und grundlegend sie die allgemein-sozialen und insbesondere die geistigen Prozesse der Neuzeit beeinflussten. Der hervorragende Philosoph unserer Zeit hat all das in seiner frühen Arbeit (Habilitationsschrift 1962) „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ analysiert, die mehrere Auflagen erlebte und auch heute nicht vergessen ist10.
Gerade in diesem Buch bestimmt er – zusammen mit anderen – auch die interessante, wesentliche Struktur, die man „die gelehrten Tischgemeinschaften” nennt, d. h. hier: eine Gemeinschaft gebildeter Menschen, die sich am Mittagstisch versammeln. Unter diese Definition (und ihre Entschlüsselung) passt gut die Lebensweise der Freunde, die sich zu verschiedenen Zeiten um Kant versammelten.
Ich erinnere kurz an die bekannten Tatsachen und ziehe eher etwas ungewohnte Schlüsse auf ihre durchgreifende Bedeutung im Leben Kants. Eine Auflösung des Rätsels der Bedeutung im Alltag und der Dauerhaftigkeit im Laufe des ganzen Lebens des Freundeskreises Kants sieht man zu Recht in einer auf den ersten Blick paradoxen Besonderheit. Es handelte sich nämlich nicht um eine Freundschaft eher aus Anlass eines gemeinsamen Dienstes (in der Universität), noch weniger um eine Freundschaft aufgrund der Zugehörigkeit zu demselben Beruf und nicht um die Freundschaft von
Menschen einer Generation. Sie war einfach eine Freundschaft der Muße. Aber einer solchen Muße, die einen Charakter annahm, der den Sinn des Lebens betraf und für das Dasein dieser Menschen höchst wichtig war, zugleich aber auch einen sozialen Sinn hatte.
Wie gut bekannt ist, hat sich Kant schon von jungen Jahren an sein Leben aufgebaut, und nach allem zu urteilen, tat er das auf sehr kluge Weise, als Abwechslung zu seiner tiefgründigen Berufstätigkeit (Verfassen von Arbeiten, Vorlesungen, Literaturstudium, Diskussionen mit Kollegen, Briefwechsel mit ihnen usw.) und zum abendlichen Ausruhen nach einem anstrengenden, schon am frühen Morgen begonnenen Arbeitstag. Wie es die Biographen bezeugen (besonders der obenerwähnte A. E. Ch. Wasianski, der ab 1790 ebenfalls würdig war, Gast Kants zu sein), war es zur Zeit der gemeinsamen Mittagessen mit Freunden und Gästen-Besuchern nicht gestattet, berufliche philosophische Probleme und Gegenstände zu erörtern. Was andere wissenschaftliche Disziplinen betraf, waren die Beurteilungen und Berichte von Gästen über Meteorologie, Physik, Chemie, Naturgeschichte sehr willkommen. Und wenn es gelang, maßgebliche Kenner heranzuziehen, wurden solche Themen gern erörtert.
Politische Ereignisse (darunter die Zeiten der französischen Revolution) ebenso wie die neuesten Zeitungsberichte waren Gegenstand eines interessierten und manchmal besorgten Gesprächs.
Dabei waren einige Gäste und Gesprächspartner Kants am Esstisch (in seinem Haus oder in den Häusern von Freunden) zur einen oder zur anderen Zeit immer wieder anwesend, andere wechselten. Unter den ständigen und eingeladenen Gästen waren Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten (und Ländern) anzutreffen: Angestellte und Beamte verschiedener Art, Professoren, Ärzte, Geistliche, gebildete Geschäftsleute, Kaufleute, manchmal Studenten. Wie Wasianski ausdrücklich anmerkt, waren die Tischgenossen Kants besonders im Ablauf der Zeit jünger als er, in späteren Jahren viel jünger (S. 198).
Als Hausherr zeichnete sich Kant (darüber gibt es viele Berichte und Zeugnisse) dadurch aus, dass er gastfreundlich war, neuen Gästen eine besondere Aufmerksamkeit und es verstand, scharfe Ecken in den Diskussionen zu glätten, wenn sie unnötig schroff wurden.
Diese und ähnliche Tatsachen sollte man nicht nur und nicht so sehr im direkten und unmittelbaren Sinne eines Zeitvertreibs verstehen. Sie hatten vor allem eine wesentliche Bedeutung im Leben von Kant selbst und in seinem Schaffen. In der Abwechslung von seinen Beschäftigungen kam ihnen eine nicht geringere Rolle zu als den berühmten Spaziergängen. Wie bekannt, war Kant physisch wenig geeignet und deshalb nicht geneigt zum „Ortswechsel“, zum Eintauchen in das Dickicht des gewöhnlichen Lebens; die ständige, tägliche Anwesenheit am Mittagstisch, in den Stunden eines ungezwungenen Umgangs ohne äußere Fesseln, von Menschen verschiedener Generationen und Tätigkeiten und von solchen, die aus anderen Ländern kamen, gab dem Philosophen also die einzige ihm zugängliche Möglichkeit, sich mit der weiten Welt des gewöhnlichen Lebens bekanntzumachen, mit ihren Problemen und ihrer Wirklichkeit, d. h. mit der Welt außerhalb der philosophischen Beschäftigungen. Mit anderen Worten, die „Lebenswelt”, um einen späteren Terminus Husserls zu gebrauchen, trat in die anscheinend verschlossene, begrenzte kleine Welt einer „gelehrten“ Daseinsweise ein…
Für ihn selbst erforderte die Aneignung dessen allerdings eine ungewöhnliche Offenheit in Bezug auf Menschen, Ereignisse und Lebenstatsachen. Aber die war Kant in höchstem Grade zu eigen. Beispiele, die das bestätigen, sind gut bekannt. So reagierte Kant ebenso wie andere damals bekannte Philosophen auf das eindrucksvolle tragische Ereignis, das Erdbeben in Lissabon. An seine weisen Beurteilungen und Empfehlungen, die auch im XXI. Jahrhundert nicht veraltet sind, hat man nicht zufällig im Jahre 2011 erinnert, in Zusammenhang mit den Ereignissen in Fukushima.
* * *
Ich führe eine konkrete historische Illustration an, die uns im Einzelnen hilft, die
Linien und Formen der Einwirkung zu verstehen, die das alltägliche Leben und der Freundeskreis auf das Leben und das philosophische Schaffen Kants ausübten.
In den Jahren 1764-65 erschienen in seinem Leben neue, dazu noch recht ungewöhnliche Freunde. Das waren die Engländer Joseph Green und Robert Motherby (1736-1801). Zu Anfang lernte Kant Green kennen, einen englischen Kaufmann, der in Königsberg mit allem möglichen handelte (Weizen, Hering, Kohle, Manufakturwaren) … Die Historiker Königsbergs teilen mit, dass J. Green in der englischen Kolonie dieser Stadt zu den reichsten und angesehensten Vertretern des Handelsstandes gehörte (Vgl. M. Kühn, op. cit., S. 185, 543).
Was R. Motherby betrifft, begann er als junger Mann in Königsberg in der Firma Greens zu arbeiten und übernahm nach dessen Tod ihre Leitung11. Beide Engländer wurden engste Freunde Kants, seine “Tischgenossen”, ständige Gesprächspartner am Mittagstisch. Aber auch tagtägliche Teilnehmer an den Ereignissen seines Lebens.
Manchmal erklärt man die Dauerhaftigkeit der Freundschaft Kants mit Green und Motherby damit, dass die Engländer als Geschäftsleute sich um die anfangs recht bescheidenen Ersparnisse Kants kümmerten. Tatsächlich machten sie ihre Sache so gut, dass Kant über Jahrzehnte seines Lebens hinweg frei von finanziellen Sorgen war. Und am Ende seiner Tage verfügte er sogar über Ersparnisse von 43.000 Gulden, was in der damaligen Zeit eine bedeutende Summe war (Ibidem, S. 189).
Angesichts der bescheidenen Ansprüche Kants kann man zu der festen Überzeugung kommen: Alle diese Umstände, wenn sie auch für das Leben nicht unwichtig waren, waren wichtige Voraussetzungen und Erklärungen für eine ungewöhnliche Freundschaft. Nach meiner Ansicht waren zwei Faktoren aber wesentlicher.
Der erste Faktor war: Es zeigte sich eine erstaunliche Verwandtschaft der einfachen alltäglichen Lebensgewohnheiten Kants und seiner englischen Freunde. Über den Charakter und die Persönlichkeit Greens hat man oft gesagt: er lebte „nach den strengsten Regeln oder Maximen“ (M. Kühn, op. cit., S. 185). In anderen Worten, das war eine im Leben Kants erschienene Person, die die zukünftigen theoretischmoralischen Aussagen Kants über „Imperative“ und „Maximen“ verkörperte. Da Kant in vielen Dingen selbst so ein Mensch war, befreundete er sich eng mit diesem Engländer. Über die Freundschaft mit Green hat M. Kühn zu Recht geschrieben: „Es war nicht eine bloß ‚ästhetische‘, sondern eine ‚moralische‘ Freundschaft“ (M. Kühn, op. cit., S. 188). Außerdem war Green, wie es Zeitgenossen bezeugen, aufgrund seiner Interessen und seines Charakters eher ein Gelehrter als ein Kaufmann. Was die Strenge in der Befolgung alltäglicher Lebensregeln betrifft, tat er all das strikter als selbst Kant, wodurch er seiner Umgebung als Beispiel für einen Pedanten diente. Man nimmt an, dass Green das Vorbild für die Hauptperson des damals populären Theaterstücks von Th. G. v. Hippel war „Der Mann nach der Uhr“. Über viele Jahre hinweg scharte sich um Green und seine englischen Freunde ein Kreis von täglichen Tischgenossen. Bis der Philosoph ein eigenes Haus erwarb, versammelten sie sich bei dem gastfreundlichen Green, und nach dessen Tod in dem warmherzigen Familienkreise Motherby, wo Kant sich insbesondere im Umgang mit Kindern von seiner besten Seite zeigte.
Der zweite Faktor ist nicht weniger wichtig und in philosophischer Hinsicht sogar noch bedeutsamer. Es geht darum, die die englischen Kaufmannsfreunde, Menschen von hoher Bildung (was auf seine Art für das Jahrhundert der Aufklärung typisch war) den wohl alltäglichen Einfluss der englischen Kultur auf ihren bedeutenden Freund wesentlich verstärkten. Darüber sagt M. Kühn voller Überzeugung: „Ebenso wie Kant liebte Green Hume und Rousseau.“
Kühn führt noch ein Zeugnis des Forschers Reicke an: «Der Umgang mit dem originalen höchst rechtschaffenen Engländer Green hat gewiß nicht wenig Einfluß auf Kants Denkart und besonders auf sein Studium englischer Schriftsteller gehabt“ (M. Kühn, op. cit., S. 186).
So schrieb einer von den Freunden Herders (Scheffner) ihm im Jahre 1766: «Der Magister [Kant] ist jetzt beständig in Engelland weil Hume u. Rousseau da sind, von denen sein Freund Herr Green ihm bisweilen etwas schreibt» (M. Kühn, op. cit, S. 185).
Die den Fachleuten bekannte Lebhaftigkeit, womit Kant sich gerade seit dieser Zeit für die Philosophie Humes interessierte und das später beständig beibehielt, kann man zu Recht mit der gerade beschriebenen Lebensalltäglichkeit und der Einwirkung des Freundeskreises verknüpfen.
Jetzt wenden wir uns aber der sozialhistorischen Bedeutung ähnlicher „Tischgesellschaften” gerade in dem kantischen, dem XVIII. Jahrhundert zu. Wir verwenden die oben erwähnten Forschungen von Habermas.
***
Sprechen wir kurz über die – aus meiner Sicht – wichtigsten Momente des Buchs von J. Habermas „Strukturwandel der Öffentlichkeit”, die sich auf die Rolle der „Tischgemeinschaften” im Deutschland des XVIII. Jahrhunderts beziehen und, wie gesagt, vollständig durch die historische Erfahrung des Freundeskreises von Kant bestätigt werden.
1. Im Unterschied zu den anscheinend ähnlichen, noch vor kurzem tonangebenden, zum Hof gehörenden „Tischgemeinschaften“ spielte in privaten, mit dem Kreise Kants vergleichbaren Gesellschaften, so weist Habermas nach, die Hierarchie der Gesellschaftsschicht keine Rolle. Und wenn in ihnen vornehme, (verhältnismäßig) reiche Menschen auftauchten oder dort ständig zugelassen wurden, dann wurden sie „als bloβe Menschen“ wahrgenommen und mussten sich „einfach wie Menschen“ benehmen.
2. Auf gleiche Weise beobachtete man einen weit größeren Abstand der Tischgesellschaften von Menschen, die Machtstrukturen oder –Instanzen vertraten, als in den noch vor kurzem modernen Salons (wo übrigens, wie es in Frankreich der Fall war, „geistige Berühmtheiten“, Schriftsteller, Philosophen, Gelehrte bedeutsamere Figuren waren als vornehme oder Macht ausübende Menschen).
3. Wie Habermas aufzeigt, waren die Tischgesellschaften eine der Formen, durch die sich historisch die perspektivische Tendenz einer organisatorischen Formierung von „Diskussionen von Privatleuten“ Bahn brach, die auf den paritätischen Grundlagen eines „bloβ Menschlichen“, des Daseins, des Rechts und der Würde entstanden.
4. Wie Habermas richtig hervorhebt, waren die Folgen vielfältig und sehr wichtig, besonders für die Literatur, Kunst und Wissenschaft, aber auch für die soziale Organisation der geistigen Lebens- und Kulturformen einschließlich der Philosophie. Eine von ihnen war: Bücher und Kunstwerke hörten auf, geistige Einzelerscheinungen zu sein, die „Erlaubnis“ zu deren Veröffentlichung und Verbreitung und deren Bewertung von den regierenden Hofkreisen ausgingen, von der Kirche usf. Wie Habermas zutreffend unterstreicht, erlangten sie eine Abhängigkeit „von der Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens“, die von der modernen Epoche abhängig war (J. Habermas. Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 98)
Alles, was der Sozialphilosoph J. Habermas über die „Tischgesellschaften” sagt, bezieht sich auch auf die freundschaftlichen Gemeinschaften um Kant. Mit einigen wesentlichen Zusätzen.
Nicht schon zu Anfang von Kants Leben als Universitätsdozent, sondern genau seit den 60er Jahren, über die wir hier sprechen, versammelten sich Menschen gerade um ihn als geistiges Zentrum, angezogen von dem mehr oder weniger klaren Gefühl, dem Verständnis (Vor-verständnis und sogar der Einsicht), dank Kant an alltäglichen Ereignissen von Weltbedeutung teilzunehmen. Je länger, desto bestimmten traten Persönlichkeiten hervor, die die Rolle von „Chronisten“ übernahmen und wirklich ausfüllten, sobald und wenn sie sich an die Objektivität und Genauigkeit in der Aufzeichnung der Ereignisse hielten – Funktionen von „Augenzeugen“ für die ihnen unbekannte zukünftige Kant-Forschung. Und insofern wir auch heute uns an ihre Freundschaft mit Kant, an ihre Zeugnisse erinnern, dehnt sich der Faden der Geschichte weiter aus und bleibt erhalten.
Beschluss
Ich habe diesen Aufsatz dem Jubiläum von E. J. Solowjow gewidmet. In unserem Lande, aber auch in denjenigen Ländern, in denen man noch die Geschichte der Philosophie, insbesondere die Kant-Forschung schätzt, benötigt dieser hervorragende Philosoph keine besondere Vorstellung. Bekannt ist seine bahnbrechende Rolle bei der Interpretation dieses unauflösbaren Zusammenhangs zwischen der „Alltäglichkeit“ und der Philosophie, im Einzelnen auch in der Besonderheit der Philosophie Kants, die hier zum profilierenden Thema geworden ist. In seinen Arbeiten über die kantische Ethik und Rechtsphilosophie hat es E. Solowjow verstanden, unvergleichlich fein, manchmal unerwartet, aber immer beweiskräftig die Linien von den Problemen der Alltäglichkeit bis zu den feinsten, schärfsten kantischen Überlegungen zu ziehen.
Und noch: Erich Jurjewitsch ist selbst ein Beispiel dafür, wie seine Persönlichkeit, seine originelle, unwiederholbare poetische Begabung, die am meisten in den nicht überwachten Gemeinschaftskreisen, insbesondere in den Tischgemeinschaften der sowjetischen Zeit hervortraten, über diese Zeit Zeugnis ablegten und auf sie einwirkten. Es ist nicht erstaunlich, dass das Denken Kants im Leben dieses glänzenden Philosophen das hauptsächliche Feld seiner historisch-philosophischen Arbeit und seiner persönlichen Begeisterung war.
QUELLENANGABEN UND ANMERKUNGEN
1 Über die Geschichte der „Gesellschaft der Freunde Kants“ und ihrer Wiedergeburt in unseren Tagen in Gestalt der „Gesellschaft der Freunde Kants und Königsbergs“ vgl.: www.freunde–kants.com
2 Kants Werke. Akademie Textausgabe, Band II, S. 33.
3 Ebenda, S. 37 – 44
4Immanuel Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen. Die Biographien von L.E.Borowski; R.B.Jachmann und E.A.Ch. Wasianski. Darmstadt. 1993. Далее соответствующие цитаты и ссылки даются в тексте моей статьи по этому изданию – с указанием, чьи именно биографии и какие страницы имеются в виду (Например: Wasianski, S…).
Не вдаваясь в детали проблемы источников, в общей форме отмечу: конкретным стимулом для предлагаемого здесь исследования было, с одной стороны, то, что второисточников для него накопилось немало, но что, с другой стороны, в сложившемся массиве кантоведения (особенно в России) отдельных работ, действительно увязывающих жизнь самого Канта, близких ему людей и его философию, далеко недостаточно. Да и они плохо известны не только широкой публике, но и философам, включая кантоведов.
В России оказались почти что забытыми разработки на эти темы в отечественной философии, прежде всего замечательная книга (советского времени) А.В. Гулыги «Кант» (в серии ЖЗЛ) – а ведь в Германии ее и сегодня читают и почитают. «Канули в лету» (в эпоху интернета) замечательные фолианты, ранее переведенные в России (например, книга Куно Фишера о Канте)…
5Kants Werke, op. cit., S. 39.
6M. Kühn. Kant. Eine Biographie. Verlag C.H. Beck. München, 2003. S. 179 ff.
7Подробнее о Кипке и других друзьях Канта см. Приложение к данному очерку» «Друзья Канта»
8Соловьев Э.Ю. “Не дай мне бог сойти с ума…” (максима самосохранения разума в антропологии Канта // Историко-философский ежегодник. 2011. М.: Канон+. С. 205-232.
9В своей книге «Кант» А.В. Гулыга совершенно верно отмечает, что стиль жизни Канта заключал в себе «уникальный гигиенический эксперимент, привлекающий к себе и по сей день пристальное внимание». Гулыга приводит меткие слова нашего писателя М. Зощенко о Канте: «Его здоровье было, так сказать, собственным, хорошо продуманным творчеством» (А.В. Гулыга. Кант. М., 1977. С. 169.)
10J. Habermas. Strukturwandel der Öffentlichkeit. Fr.a/M, Suhrkamp. 1990.(Unveränderter Nachdruck der zuerst 1962). Далее это произведение цитируется в тексте статьи.
11Подробнее о жизни, деятельности Мотерби, его дружбе с Кантом, которого английский друг пережил всего на один год, см. в Приложении краткий очерк, написанный Марианной Мотерби, которая принадлежит к прямым потомкам Роберта Мотерби. В настоящее время она живет в Берлине, является одним из руководящих лиц объединения Немецких железных дорог. Активно работает в «Обществе друзей Канта и Кёнигсберга» в качестве заместителя Председателя.