Frieden und Krieg über Königsberg
Großbritannien und das Schicksal von Immanuel Kants Heimatstadt
von Gerfried Horst




Danach entstand der erste protestantische Staat der Welt: zunächst das Herzogtum, ab 1701 das Königreich Preußen. Auch dieses bestand etwa drei Jahrhunderte lang – bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Seine geistige Grundlage war der Protestantismus Martin Luthers, der die Bibel ins Deutsche übersetzte, damit alle Menschen Gottes Wort unmittelbar verstehen konnten – ohne den Umweg über einen Priester.

Die drei preußischen Könige – Friedrich I., Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II., der ‚der Große‘ genannt wurde – prägten Armee und Gesellschaft durch pietistische Werte: Höflichkeit, Bescheidenheit, Pflichtbewusstsein, Ehrlichkeit, Sparsamkeit, Fleiß und Achtung vor der Obrigkeit. Friedrich der Große fügte dem die Ideale der Aufklärung hinzu – und ermöglichte es Kant, seine Philosophie zu entwickeln und zu verbreiten.

Die preußischen Könige herrschten gleichzeitig über das Kurfürstentum Brandenburg mit der Hauptstadt Berlin und über das Königreich Preußen mit Königsberg als Hauptstadt. Kant war stolz darauf, in Königsberg zu leben – in der Hauptstadt des preußischen Königreichs. Auf dieser Abbildung sehen Sie, wie Königsberg im 18. Jahrhundert zur Zeit Kants aussah.

Die preußischen Tugenden waren auch die Tugenden Kants. Seine Gedanken prägten die gebildeten Schichten Königsbergs – und das über Konfessionsgrenzen hinweg. Unabhängig vom Glauben stimmten die Menschen in Königsberg seinen Lehren zu. Seine Philosophie stiftete einen geistigen Zusammenhalt, der auch ethnische Minderheiten schützte.

Der britische Philosoph Bryan Magee schrieb über die Philosophie Immanuel Kants:

Der englische Schriftsteller Max Egremont hat die Atmosphäre beschrieben, die Königsberg und Ostpreußen über Jahrhunderte hinweg auszeichnete:

Sehen Sie sich nun bitte einige Fotos des alten Königsbergs vor seiner Zerstörung an.



Teil II. Die Zerstörung Königsbergs im August 1944
Kommen wir nun zur Zerstörung Königsbergs durch das Bomberkommando der RAF im Zweiten Weltkrieg.

Ein wichtiger Augenzeuge dieser Tragödie war Michael Wieck, Sohn einer deutsch-jüdischen Mutter, der 1944 sechzehn Jahre alt war. Er musste den gelben Stern tragen und Zwangsarbeit in einer Fabrik leisten, statt zur Schule zu gehen. Ich hatte sein Buch „Zeugnis vom Untergang Königsbergs – Ein ‚Geltungsjude‘ berichtet“ gelesen und ihm einen Brief geschrieben. So lernten wir uns kennen – und wurden Freunde. Als ich mit meinem eigenen Buchprojekt begann, warnte er mich:

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Kann ich als Deutscher die westlichen Alliierten, besonders die britische Regierung, für ihre Bombenkampagne gegen deutsche Städte kritisieren? Musste sich Großbritannien nicht gegen die Nazi-Aggression wehren? Aber warum wurden Königsberg und so viele andere deutsche Städte so heftig bombardiert? War es, um die Juden und andere Opfer der Verfolgung zu retten? Oder um die NS-Militärmaschinerie zu zerstören? Doch warum wurden so viele mittelalterliche Altstädte vernichtet? Warum starben so viele Zivilisten? Warum gingen so viele Kulturschätze verloren?
Die allgemein verbreitete Ansicht ist, die deutsche Luftwaffe habe als erste mit Angriffen auf Guernica, Warschau, Rotterdam, London und Coventry zivile Ziele bombardiert; die Briten und später die Amerikaner hätten nur zurückgeschlagen, und erst am Kriegsende, etwa mit der Zerstörung Dresdens, sei das Bombardement ‚unzumutbar‘ geworden.
Die Wirklichkeit sah anders aus.
Ich möchte meine Position in wenigen Thesen zusammenfassen:
Die Royal Air Force wurde als eigenständige Waffengattung – neben Heer und Marine – am 1. April 1918 gegründet, sieben Monate vor Ende des Ersten Weltkriegs. Ein Grund dafür war, dass im Stellungskrieg Hunderttausende britischer junger Männer starben. Sir Hugh Trenchard, der Gründer der RAF, kam zur Überzeugung, dass eine strategische Luftstreitmacht in einem zukünftigen Krieg britische Verluste minimieren könnte. Seiner Meinung nach wäre es effektiver, feindliche Lebenszentren und die Zivilbevölkerung zu bombardieren, um ihre Moral zu brechen, so dass sie ihre Regierung zum Frieden zwingen würden.

Wie in den Protokollen einer Konferenz im Air Ministry vom 19. Juli 1923 festgehalten ist, unterschied sich die Strategie der RAF von der der Armee und Marine. Sir Hugh Trenchard erklärte:

Der Historiker A.J.P. Taylor schrieb:

Die ‚Area Bombing Directive‘ vom 14. Februar 1942 – eine Direktive des britischen Luftwaffenministeriums – wies das RAF Bomber Command an:

Ebenfalls im Februar 1942 wurde Arthur Harris zum Oberbefehlshaber des Bomberkommandos der Royal Air Force ernannt. Nur vier Wochen später, in der Nacht vom 28. März 1942, wurde Lübeck als erste deutsche Stadt vom Bomberkommando der RAF angegriffen. Der Angriff löste einen Feuersturm aus, der das historische Stadtzentrum schwer beschädigte. Drei der Hauptkirchen wurden durch Bomben zerstört, ebenso große Teile der bebauten Innenstadt.
Der Historiker Richard Overy erklärte (Zitat):

Von 1942 bis 1945 wurden insgesamt 131 deutsche Städte und Ortschaften nach dieser Methode bombardiert. Auch Königsberg war darunter.
Um das 1.900 Meilen entfernte Königsberg vom Süden Englands aus zu erreichen, mussten die britischen Bomber den Luftraum des neutralen Schweden überfliegen – ein Verstoß gegen dessen Neutralität.

Schwedische Zeitungen berichteten ausführlich über den schrecklichen Lärm, den die zahlreichen viermotorigen schweren Bomber verursachten.

In der offiziellen britischen Geschichte „The Strategic Air Offensive against Germany 1939–1945“ steht geschrieben:
Bei dieser Operation traten erhebliche Schwierigkeiten auf. Das Ziel lag in sehr großer Entfernung und erforderte daher besonders hohe Navigationsfähigkeiten. …
Zudem erschwerten große Wolkenmassen über dem Ziel die visuelle Markierung und verzögerten den Angriff tatsächlich um zwanzig Minuten. Letztlich konnten jedoch all diese Schwierigkeiten überwunden werden, und ein glänzender Angriff wurde durchgeführt.
Von den 189 eingesetzten Lancasters griffen sicher nicht mehr als 175 das Ziel an. Dennoch richtete diese vergleichsweise geringe Zahl von Bombern in Königsberg enorme Verwüstungen an. 41 Prozent aller Gebäude und 20 Prozent der Industriegebäude in der Stadt wurden schwer beschädigt. Aufgrund von Luftaufnahmen schätzte man, dass 134.000 Menschen obdachlos geworden waren und weitere 61.000 ihre Häuser beschädigt hatten. Solche Ergebnisse gegen ein so weit entferntes Ziel hätten ein Jahr zuvor kaum 1.000 Bomber erreicht. Dies zeigt die zunehmende Schlagkraft von Flächenangriffen, die durch bessere Markierung und höhere Bombengenauigkeit möglich wurde.
Dieser Bericht wurde 1961 veröffentlicht. Er erwähnt nicht, wie viele Menschen dabei starben (etwa 6.000). Die nächtliche Massenvernichtung so vieler Königsberger – vor allem Frauen, Kinder und ältere Menschen, da die Männer im Heer kämpfen mussten – wird noch 1961 als „ein glänzender Angriff“ bezeichnet.
Der Augenzeuge Michael Wieck schrieb über den Bombenangriff auf Königsberg am 29. August 1944:

Er beschrieb den Angriff am 29. August wie folgt (Zitat):


Weder der Hafen von Königsberg noch die Bahnhöfe, Militärkasernen oder Industrieanlagen wurden bombardiert, sondern nur die Altstadt, der Dom und weitere Kirchen, die Universitätsgebäude sowie die Wohnviertel.
Bitte werfen Sie einen Blick auf das Ergebnis der Bombardierung:


Teil III. Eine Bewertung der Flächenbombardements des RAF Bomber Command
In den letzten Kriegsmonaten schien das Prinzip der Bombenangriffe zu lauten, dass eine deutsche Stadt zerstört werden müsse, nur weil sie noch nicht zerstört war. Spätestens Anfang 1944 hatten die RAF und die US-Luftwaffe die uneingeschränkte Luftüberlegenheit über Deutschland. Sie konnten zerstören, was immer sie wollten.

Der deutsche Historiker Golo Mann – Sohn von Thomas Mann und seiner jüdischen Frau Katia – schrieb:

Doch das Ziel der Bombenkampagne, die Moral der Deutschen zu brechen, wurde nicht erreicht. In seinem Buch ‚Among the Dead Cities: Is the Targeting of Civilians in War Ever Justified?‘, veröffentlicht 2006, fasste A. C. Grayling die Wirkung der britischen Flächenbombardierung auf die Moral der deutschen Bevölkerung zusammen:

Warum wurde trotz dessen weiter bombardiert? Was war der Grund, dass die schwersten Angriffe kurz vor Kriegsende stattfanden?
Webster und Frankland, die Autoren der offiziellen britischen Geschichte ‚The Strategic Air Offensive Against Germany 1939-1945‘, gaben folgende Antwort auf diese Frage:

Es klingt ironisch, dass Webster und Frankland den Angriff auf die deutschen Städte als ‚die Krönung eines Bauwerks, dessen Fundament… in der Vergangenheit gelegt wurde‘ bezeichneten, wenn man bedenkt, dass das Bomber Command der RAF Millionen von Bauwerken in Deutschland zerstörte, deren Fundamente in der Vergangenheit gelegt wurden, viele im Mittelalter.
Die britische Propaganda im Zweiten Weltkrieg bemühte sich, die Wahrheit über die Bombenangriffe auf deutsche Städte zu verschweigen oder zu verzerren. Martin Middlebrook schrieb:

Bitte werfen Sie einen Blick auf die Bilder von vier Friedenspionieren: Immanuel Kant, Julius Rupp, Hannah Arendt und Vera Brittain. Alle vier haben erklärt, was getan werden muss, um die Voraussetzungen für den ewigen Frieden zu schaffen.
Teil IV. Der Weg zum Frieden

Die erste Voraussetzung ist die Wahrheit. Die Wahrheit kann gesagt werden. Kant schrieb:

Der Königsberger Denker, Theologe und Politiker Julius Rupp, Großvater der Künstlerin Käthe Kollwitz, versuchte, Kants Philosophie in Kants und seiner Heimatstadt Königsberg in die Praxis umzusetzen. Was Kant eine Pflicht nannte, nämlich die Wahrheit zu sagen, nannte sein Schüler eine Kraft. Er schrieb:

Während des gesamten Krieges sprach Vera Brittain die Wahrheit darüber aus, was das RAF Bomber Command getan hatte. 1944 schrieb sie:

Ihre Prophezeiung ist noch nicht eingetroffen, aber es gibt andere, die glauben, dass sie eintreten sollte.
Im Jahr 2006 schrieb A. C. Grayling:

Wie in Großbritannien ist es auch in Deutschland schwierig, die strategische Luftoffensive gegen Deutschland im Zweiten Weltkrieg zu kritisieren. A. C. Grayling gab einen Grund an, warum die Deutschen psychisch nicht in der Lage waren, die Zerstörung ihrer Städte zu beim Namen zu nennen:

Hannah Arendt (die aus einer deutsch-jüdischen Königsberger Familie stammte, wie der Königsberger Michael Wieck, der eine jüdische Mutter hatte) gab Ratschläge, wie die Deutschen sowohl mit dem, was in ihrem Namen getan wurde, als auch mit dem, was ihnen angetan wurde, umgehen könnten:

Im Jahr 2014 beschloss der Rat des Stadtbezirks Mitte von Hamburg, eine Uferstraße nach der britischen Pazifistin Vera Brittain zu benennen. Ihre Tochter, Baronin Shirley Williams, nahm an der Einweihungsfeier teil. Zwei Jahre später, 2016, wurde auf ähnliche Weise ein Vera-Brittain-Ufer im Zentrum Berlins eingerichtet, und Shirley Williams kam mit ihrer ganzen Familie zur Eröffnung.

Doch selbst heute gibt es in Großbritannien in keinem Museum oder anderswo einen Hinweis auf die systematischen Angriffe auf deutsche Zivilisten in ihren Wohnungen, keinen Hinweis darauf, dass diese Angriffe Verbrechen nach dem internationalen humanitären Völkerrecht zum Schutz der Zivilbevölkerung darstellten.
Stattdessen wurde vor der St.-Clement-Danes-Kirche, der Zentral-Kirche der Royal Air Force am östlichen Ende des Strands in London, eine Statue von Sir Arthur Harris aufgestellt:

Petitionen mit Protesten, die von Bürgermeistern mehrerer deutscher Städte, die bombardiert wurden (Köln, Pforzheim, Dresden, Hamburg, Hildesheim, Magdeburg, Mainz und Würzburg), an den britischen Botschafter in Deutschland geschickt wurden, wurden ignoriert.
Oft hört man, wenn Sir Arthur Harris erwähnt wird, den Vorwurf, sein Spitzname sei ‚Bomber Harris‘ gewesen. Ich fand ein Dokument, das diesem Vorwurf widerspricht. In einem Brief an die Redaktion des Guardian Weekly schrieb der ehemalige Bomberpilot J. L. Cox nach dem Tod von Sir Arthur Harris am 5. April 1984:

Deshalb nennen Sie bitte Sir Arthur Harris von nun an so, wie es die Besatzungsmitglieder des Bomber Command taten:
‚Butcher Harris’ (‚Schlächter Harris‘).
Außerdem schlage ich vor, Vera Brittain zu ehren, indem man eine Straße nach ihr benennt oder eine Statue von ihr in London errichtet. Ein geeigneter Platz für ihre Statue könnte meiner Meinung nach neben der Statue von Butcher Harris sein.
Abschließend ist zu sagen: Kants ‚philosophischer Entwurf Zum ewigen Frieden‘ ist kein unrealistischer Traum, der niemals Wirklichkeit werden kann. Einen Zustand des ewigen Friedens zu schaffen, ist keine leere Idee, sondern eine Notwendigkeit für das Leben auf dieser Erde, eine Aufgabe, die wir erfüllen können und müssen. Kant schrieb:

In seinem Vortrag am 22. April 2013 zum 289. Geburtstag Immanuel Kants in Kaliningrad/Königsberg sagte der englische Schriftsteller Max Egremont:

Versöhnung und Hoffnung sind die Botschaft von Kant und Königsberg.

