Philosophie

Kant ein Rassist? Lest ihn bitte genau

DIE WELT am 17. Juni 2020

Die jüngsten Forderungen, Immanuel Kant zu ächten, zeigen vor allem eines: Seine Kritiker haben ihn nicht gründlich gelesen. Korrekturen des Kant-Forschers Volker Gerhadt.

Wie schön wäre es doch, wenn mit der Streichung des Begriffs der Rasse auch gleich der Begriff des Rassismus verschwände! Nur darf der Zweifel, der hier angebracht ist, nicht die Folge haben, auf die Korrektur eines erkannten Fehlers zu verzichten. Ob das aber bei einem Begriff der Fall ist, der, wie im Grundgesetz, Art. 3, gar nicht auf die biologische Nomenklatur, sondern auf ein unter Berufung auf den Begriff der Rasse verübtes Verbrechen bezogen ist, das sich unter keinen Umständen wiederholen soll, ist eine andere Frage.

Sicher ist hingegen, dass man sich als Leser Kants nicht davon entmutigen lassen darf, wenn oberflächlichen Lesern schon die Entdeckung des Begriffs der Rasse in seinen Texten genügt, ihn für einen „Rassisten“ zu halten. Auch der Behauptung, Kantianer würden diese Passagen im Werk Kants bestreiten oder gar verleugnen, muss widersprochen werden.

In der Kant-Forschung ist es eine allgemein bekannte Tatsache, dass Kant zwei kleine Schriften zum Problem der „Menschenrace“ geschrieben hat, eine 1775 und die andere 1785. Außerdem ist nicht verborgen geblieben, dass Kant in seiner grundlegenden Schrift „Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie“ (1788) seine bereits 1775 gegebene methodologische Erläuterung zur Bedeutung des Begriffs der „Race“ wiederholt und erneut ausführt, wie er den Terminus im Verhältnis zum „Stamm“ auf der einen und zum „Menschenschlag“ auf der anderen versteht.

Solche Ausführungen gehören zu den Kant stets interessierenden klassifikatorischen Problemen, die erkennen lassen, dass es ihm in seiner Beschäftigung mit den „Anfangsgründen“ der Naturwissenschaft nicht nur um die Physik, sondern auch um die damals im Entstehen begriffene Biologie zu tun ist.

Der sachliche Ertrag dieser Bemühungen findet sich 1790 in seiner wahrhaft neu ansetzenden Theorie des Lebens im zweiten Teil der „Kritik der Urteilskraft“. Sie überwindet die traditionelle aristotelische Biologie, der noch Leibniz folgte, und geht mit der Neubestimmung des Begriffs der Evolution einen entscheidenden Schritt auf Darwin zu. Von „Menschenracen“ ist hier keine Rede mehr, denn das methodologische Interesse der vorbereitenden Überlegungen hat seine Funktion erfüllt.

In den vorausliegenden Schriften hatte Kant der Tatsache gerecht zu werden versucht, dass in einer „Gattung“, in der alle Paarungen derart gleich sind, dass sie ihrerseits weiterhin zeugungsfähige Nachkommen der gleichen Gattung hervorbringen können, dennoch in den verschiedenen Teilen der Erde in so unterschiedlichen Erscheinungsformen vorkommen.

Kants Ausgangspunkt ist die natürliche Gleichheit aller Menschen, die für ihn so gewiss und offenkundig ist, dass er sie als eine große „Familie“ bezeichnet. Umso naheliegender ist für ihn die Frage, wie es zu den Unterschieden im Aussehen der Individuen kommen kann – Unterschiede, die sich auch noch eine Weile erkennen lassen, wenn Angehörige unterschiedlichen Aussehens Nachwuchs haben. Von Chromosomen und ihrer Kombinatorik wusste Kant noch nichts. Hier führte erst die medizinische Forschung im Laufe des 20. Jahrhunderts zu gesichertem Wissen.

Kants Antwort auf die Frage nach den Ursachen für die erblichen Unterschiede innerhalb der Menschenfamilie lautet, in den Worten, die wir heute dafür verwenden: Es sind ökologische und kulturelle Unterschiede in den jeweiligen Lebensbedingungen der Menschen, die im Laufe der Entwicklung der Menschheit zu den auffälligen Differenzen im Phänotyp geführt haben.

Wen diese Antwort überrascht, der weiß eben nicht, dass Kants Vorlesungen über „Physische Geographie“, in deren Zusammenhang die erste Äußerung zur „Menschenrace“ fällt, den vermutlich historisch ersten Beitrag zu einer „Ökologie“ des menschlichen Daseins darstellen. Überdies wissen nicht nur Eingeweihte, dass Kant in produktiver Konkurrenz zu seinem Schüler Herder eine „Theorie der Kultur“ entworfen hat. Den Grundriss dazu enthalten seine Gedanken über den „Muthmaßlichen Anfang der Menschengeschichte“, der 1786 erscheint.

Hier hätte Kant über die „Race“ sprechen müssen, wenn seine Kritiker Recht hätten. Doch das Wort kommt so wenig vor wie der damit gemeinte Unterschied. Hier reicht es für den alle gleichermaßen umfassenden Begriff der Menschheit aus, dass die Menschen aufrecht „gehen“, „sprechen“ und in zusammenhängenden Begriffen „reden“ können. Überdies müssen sie sich ihre „Lebensweise“ selbst auswählen können. Im Gang der Entwicklung kommen dann auch ein auf Reiz und Scham gegründeter sexueller Umgang, mit ihm die Fähigkeit, Liebe zu empfinden und eine Erwartung des „Künftigen“ hinzu.

Gegen alle Pennälervorurteile ist geltend zu machen, dass Kant ein Denker ist, der ohne Anschauung gar nicht denken kann. Begriffe „ohne Anschauung“ sind für ihn bekanntlich „leer“. Und so füllt er schon seine ersten Überlegungen zum Begriff der Rasse mit einer Illustration, die seinen Neigungen auf dem Feld der „Physischen Geographie“ entgegenkommt. Hier setzt er dann seine ihm wahrhaft reichlich zu Gebote stehende Phantasie ein, um die zwischen „Gattung“ und „Familie“ einerseits und „Spielarten“ oder „Varietäten“ angesiedelten „Racen“ anderseits einzuteilen.

Das führt dann zu dem, was Kant in ständigem Bezug auf die umgebenden klimatischen Bedingungen in der Form von vier „Racen“ vorstellt: Diejenige, deren Angehörige in „feuchter Kälte“ überleben müssen sowie jene, die ihnen „trockene Kälte“, „feuchte“ Hitze“ oder „trockene Hitze“ zumuten. So werden der Reihe nach die „Europäer“, die „Kupferrothen“ Nordamerikas, die „Schwarzen“ aus Mittelafrika und schließlich die „olivengelben Indianer“ unterschieden. Aus dem Zusammenhang der Vorlesungsankündigung von 1775, in der sich diese Aufzählung findet, wird klar, dass Kant hier eine Idee vorträgt, wie die vielfältigen Erscheinungsformen des Menschen auf der Erde eingeteilt werden könnten.

Kant macht also Vorschläge und äußert Hypothesen, und es liegt nahe, dass er sie mit den kulturellen Leistungen der jeweils erfassten Kultur der Menschen in den verschiedenen Erdteilen verbindet. Es ist eine Vorliebe der damaligen Wissenschaft, sich mit den „Nationalcharakteren“ zu beschäftigen, denen auch Kant als junger Mann eine Publikation gewidmet hat, die ihm zu seiner Zeit den Ruf eines unterhaltsamen Schriftstellers einbrachte. Diesen Ruf hat er dann durch den Schwierigkeitsgrad seiner philosophischen Hauptschriften bei vielen Zeitgenossen wieder eingebüßt.

Aber man sollte bei einem Philosophen, der ein neues Zeitalter des Philosophierens eingeleitet hat, darauf verweisen dürfen, dass die gefälligen Unterhaltungsschriften nicht mit den Hauptwerken zur Grundlegung der kritischen Philosophie verwechselt werden dürfen. Zwar ist es so richtig wie unerlässlich, ihm seine Urteile über Frauen, über die fehlende Selbstständigkeit von Hausangestellten oder seine bis in die Neunziger Jahre festgehaltene moralische Wertschätzung von Krieg und Kolonialismus vorzurechnen.

Doch daraus die Abwertung seines philosophischen Lebenswerks zu machen, ist entweder ein Zeichen mangelnder Kenntnis oder fehlender Urteilskraft. Das gilt insbesondere für die in Umlauf gebrachten Versuche, den Begriff der „Race“ zur Diskreditierung der Kritischen Philosophie als ganzer zu nutzen. Um ein solches Urteil treffend zu machen, hätte Kant über die schrecklichen Erfahrungen verfügen müssen, die wir heute mit dem Begriff der „Rasse“ verbinden.

Kant aber standen nicht Himmler, Heydrich oder Hitler vor Augen, sondern er lebte in einem Staat, dessen König sich gern mit dem Urteil über die „verfluchte Menschenrasse“ („cette maudite race“) zitieren ließ. Auch Kant hat es erwähnt, und dennoch ist sein ganzes philosophisches Werk ein einziger Widerspruch gegen diese verächtliche Äußerung des ansonsten von ihm hochgeschätzten Monarchen. Gesetzt, Kant hätte, den Aussagen seiner Texte entgegen, doch fragwürdige Absichten mit ihnen verknüpft, dann enthalten seine politischen Schriften der letzten Jahre nicht nur eine klare, sondern auch eine bestens begründete Absage an alles, was mit dem politischen Gebrauch des Rassenbegriffs verbunden werden kann.

Da ist die Absage an alle künftigen Kriege, die deutliche Kritik an den kolonialen Bestrebungen und auch die scharfe Verurteilung der europäischen Fürsten und ihrer Staaten, die nur ihren Machterhalt betreiben. Kant plädiert für das Menschenrecht und lässt keinen Zweifel daran, dass die politische Zukunft nur in einer auf Freiheit und Gleichheit aller Menschen verpflichtenden republikanischen Verfassung liegen kann.

Seine Vorbehalte gegen den Konsenszwang der Demokratie gibt er auf, nachdem er sich mit Blick auf den neuen amerikanischen Staat, dessen Entstehung er vorbehaltlos begrüßt hatte, davon überzeugen konnte, dass man in einem repräsentativen politischen System auch mit Mehrheiten regieren kann.

Und er exponiert die Weltgeltung des Weltbürgerrechts, das für alle Menschen in allen Staaten gelten soll. Für Sonderrechte der Rassen, die nach Kant keine gesellschaftlichen Unterschiede zwischen den Menschen begründen können, ist unter diesen Bedingungen kein Platz – für Kant schon deshalb nicht, weil er zu keinem Zeitpunkt an der ursprünglichen Gleichheit aller Menschen gezweifelt hat.

Volker Gerhardt ist Seniorprofessor für Praktische Philosophie an der HU Berlin, er leitet die Berliner Akademie-Vorhaben zur Herausgabe der Werke Kants und Nietzsches. Zuletzt erschien von ihm „Humanität. Über den Geist der Menschheit“ (C.H.Beck)

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