Geschichte

Immanuel Kant, Hannah Arendt und das runde Leder

Foto des Autors: © HAIT

Impressionen einer Reise nach Kaliningrad im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft 2018

VON GERHARD BARKLEIT

Niemand hätte es für möglich gehalten, dass im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft die Direktflüge aus der Hauptstadt des amtierenden Weltmeisters in einen Austragungsort von immerhin vier Vorrundenspielen eingestellt würden. Es blieben zwei Varianten, nämlich über Warschau oder über Minsk. Wer sich für Warschau entschieden hatte, war mehr als acht Stunden unterwegs, wurde dafür aber mit einer Überraschung belohnt. Die jungen und hübschen Beamtinnen lassen sich auf ein lockeres Gespräch ein. Nur wer die deprimierenden Kontrollen zu Sowjetzeiten erlebt hat, kann das als Fortschritt regelrecht genießen. Nach dem Verlassen des Terminals ein Blick zurück auf das neue Abfertigungsgebäude – recht ansehnlich für einen schwach frequentierten Regionalflughafen unweit des Kurischen Haffs.

Erschienen ab 18. Juni 2018 in mehreren Folgen unter dem Titel   Kaliningrad zwischen Kant und Fußball-WM im Internet-Blog Oiger von Heiko Weckbrodt [https://oiger.de/] 

Bald rollt der Ball

Die Stadtrundfahrt am folgenden Tag hielt zwei weitere Überraschungen bereit. Ein Blick durch die Absperrung der Großbaustelle eines Fußballstadions für die in Kürze beginnende Weltmeisterschaft, auf der von den Außenanlagen des Stadions noch nichts zu sehen war, rief Erstaunen hervor. Hier sollen am 16. Juni Kroatien und Nigeria das zweite Vorrundenspiel der Gruppe D austragen, fragten wir. „Wir Russen sind manchmal ein wenig faul“, beruhigte uns die Reiseleiterin mit einem Hauch von Selbstironie. „Zu Sowjetzeiten haben wir die Fünfjahrpläne auch immer erst an den letzten drei Tagen erfüllt.“ Das Stadion für etwas mehr als 30.000 Zuschauer wurde der Münchner Allianz-Arena nachempfunden.

Eine vom Deutsch-Russischen Austausch und dem Auswärtigen Amt unterstützte Nichtregierungsorganisation für Fußballkultur in Osteuropa, der Fankurve-Ost e.V.[1], widmet sich auch der Weltmeisterschaft 2018. Dabei werden auch die zum Teil skurrilen Amtsmaßnahmen unter die Lupe genommen, mit denen die russischen Behörden versuchen, das Land während der WM glänzen zu lassen. In Kaliningrad, dem einstigen Königsberg, finde „ein regelrechter Frühjahrsputz statt“, heißt es in einem der Newsletter. Das Ergebnis hätten die Regional-Beamten allerdings als unbefriedigend empfunden, vor allem „die verwirrenden und hässlichen Werbeschilder“. Geschäftsinhaber, die der Aufforderung nicht folgen wollten oder konnten, die Werbung nach den Vorgaben eines von der Stadt beauftragten Architekturbüros zu gestalten, gaben ihre Geschäfte auf. Auch die von Mythen umwobenen Potemkinschen Dörfer wurden als Hilfe in der Not wieder zum Leben erweckt. Die Ruine einer ehemaligen Papierfabrik, die Ende des 19. Jahrhunderts entstand und die sich auf dem Weg zum Stadion befindet, sei mit Folien aufgehübscht worden, auf denen Fenster mit Blumenkästen abgebildet sind.[2]

Ähnliches planen die Behörden mit dem Haus der Räte, in dessen unmittelbarer Nähe die für 15.000 Besucher angelegte Fan-Zone entsteht. „Das nie vollendete und heute vernachlässigte Gebäude wird für die Zeit der WM kurzerhand mit einem riesigen Banner abgedeckt.“ „Dom Sowjetow“ ist die spektakulärste Investruine im Zentrum der Stadt.

Der Stadionbau habe in den vergangenen Monaten für einige negative Schlagzeilen gesorgt. Die Entscheidung, das Stadion auf der Oktober-Insel zu bauen, die sich wegen ihres moorigen Bodens für Bauprojekte nicht besonders eignet, führte in der Tat zu ernsthaften Problemen. Der Untergrund musste vor Baubeginn mit Sand verstärkt werden. Doch der verwendete Sand hatte nicht die nötige Qualität. Die dadurch verursachten Verzögerungen führten zu einer Neuvergabe des Bauauftrags sowie Ermittlungen wegen des Verdachts von Korruption gegen die Inhaber des Baukonzerns Summa. Diese seien Ende März in Untersuchungshaft genommen worden. Rund 9,8 Millionen Euro sollen sie beim Bau der Arena veruntreut haben. Bereits 2017 seien einige Mitarbeiter von lokalen Behörden sowie der Bauminister des Oblast Kaliningrad verhaftet worden.[3]

Ein Koffer für Hannah Arendt

Doch zurück zu den eigenen Erlebnissen! Auf uns warteten weitere Überraschungen. Die unangenehmen sind den gegenwärtigen Friktionen in den deutsch-russischen Beziehungen geschuldet. 

Die weltweit bekannte Philosophin Hannah Arendt, Namenspatronin des in Dresden beheimateten Instituts für Totalitarismusforschung, verbrachte ihre Kindheit und frühe Jugendzeit in Königsberg, im heute nicht mehr existierenden Hause ihres Großvaters. Anlässlich ihres 110. Geburtstags wurde am 14. Oktober 2016 eine ihr gewidmete Skulptur eingeweiht. Der israelische Bildhauer Ram Katzir hatte einen steinernen Koffer aus echtem Jerusalemer Kalkstein gefertigt und vor dem Museum für Stadtgeschichte am Friedländer Tor aufgestellt. Diese Arbeit ist einer gemeinsamen Initiative des in Berlin beheimateten und international besetzten Vereins „Freunde Kants und Königsberg“ sowie dem Freundeskreis des Dresdner Hannah-Arendt-Instituts zu verdanken, die auch einen Teil der finanziellen Mittel aufbrachten. Als Zeichen der Verbundenheit mit seiner Vaterstadt beteiligte sich auch der Autor, bis zum Sommer 2008 Mitarbeiter des Hannah-Arendt-Instituts, an der Finanzierung. Die Dresdner hatten ihre Zuwendung mit der Auflage versehen, dass die Namen der Sponsoren an der Rückseite des Denkmals sichtbar sein müssen.

Der Königsberger Express berichtete über den festlichen Akt, an dem als prominente deutsche Teilnehmer der Bundestagsvizepräsident Johannes Singhammer und der Generalkonsul Dr. Michael Banzhaf teilnahmen. Aus Moskau war Professor Alexander Filippov angereist, Philosoph und Soziologe sowie Chefredakteur der Zeitschrift „Soziologische Rundschau“. Swetlana Kolbanjowa, Autorin des Beitrages, sah das Ereignis als „großen Anstoß, damit der Name Arendt in Kaliningrad zu neuen Klängen kommt“.[4] Wo ist der „Hannah-Arendt-Koffer“, fragten wir, als wir am Friedländer Tor vorüberfuhren. „Eingemottet im Fundus einer Zweigstelle des staatlichen Museums für Gegenwartskunst in der Defensionskaserne Kronprinz am Litauischen Wall“, tönte es von rechts. Die zur Stimme gehörende junge Dame entpuppte sich als gelernte Philosophin mit einem Faible für Hannah Arendt. Sie habe den Koffer im vergangenen Jahr eher zufällig dort entdeckt, erklärte sie. 

Ein Philosoph der Kaliningrader Universität in leitender Stellung trug maßgeblich dazu bei, den Namen Hannah Arendt in der Stadt zum Klingen zu bringen. Während zweier Forschungsaufenthalte am Dresdner Hannah-Arendt-Institut hatte er sich mit Leben und Werk der Namensgeberin und deren geistiger Nähe zu Kant beschäftigt. Da Hannah Arendt in ihrem Hauptwerk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ das nationalsozialistische Dritte Reich und die Sowjetunion unter Stalin zu Prototypen dieser Art politischer Herrschaft erklärte, verfolgten große Teile des Lehrkörpers jedwedes Engagement zur Popularisierung dieser Denkerin in Kaliningrad mit großem Misstrauen. Sein Engagement, vor allem aber wohl seine exzellenten Beziehungen zu Deutschland überhaupt, wurden nach der Annexion der Krim durch Russland und den daraufhin verhängten Sanktionen des Westens in der Universität immer kritischer gesehen. In einer solchen Umgebung ist es nahezu unmöglich, sich erfolgreich gegen Mobbing zu wehren. Die Auflösung des Instituts für Kantforschung und die Gründung einer Academia Kantiana genannten Nachfolgeeinrichtung am 24. Mai 2017 ließen ihn die Universität verlassen. Kant-Forschung auf höchstem Niveau und in wissenschaftlicher Freiheit, das weiß man an der Kant-Universität, wird in Deutschland betrieben. In Moskau, so heißt es, könne man, anders als hier, aber auch zu Hannah Arendt forschen. Das Verlassen der Kaliningrader Universität kann also durchaus eine Chance sein. 

Die Academia Kantiana

Die aus Moskau kommende Professorin Nina Dmitrijewa spricht ein vorzügliches Deutsch und sieht als profilbestimmende Schwerpunkte ihrer Einrichtung die Kant-Rezeption in Russland, den Neukantianismus Ende des 19./Anfang des 20.Jahrhunderts sowie die Aktualität der Ideen Kants in Politik und Wissenschaft sowie natürlich Kant-Vorlesungen. Sie wolle versuchen, die Academia Kantiana auch international zu vernetzen, wofür jährliche Sommerschulen für Studenten und junge Wissenschaftler ein geeignetes Mittel seien. Aber sowohl die Finanzierung, als auch das Interesse daran seien ein noch zu lösendes Problem. Auch sei es hierzulande noch nicht üblich, Zweisprachigkeit zu fordern, also russisch und Englisch. Die Nachfrage, ob es nicht zwingend sei, dass man an einer Academia Kantiana den Namensgeber auch in Originalsprache lesen können müsse, beantwortete sie mit ihrer Erfahrung, dass man zum einen internationale Kurse nur in Englisch anbieten könne. Zum anderen gewönnen aber die Kursteilnehmer die Einsicht, die deutsche Sprache lernen zu müssen.

Auf Hannah Arendt angesprochen, erklärte sie, Forschungen zu Hannah Arendt schließe sie nicht aus, hätten aber zurzeit auch keine Priorität. Auf meine früheren erfolglosen Aktivitäten zur Initialisierung einer Zusammenarbeit zwischen dem Hannah-Arendt-Institut und der KantUniversität verweisend, betonte ich, wie hilfreich Hannah Arendt bei der Aufarbeitung der Vergangenheit von Diktaturen sein könne – nicht nur in Deutschland, sondern auch in Russland. Bei diesen meinen Worten ging ein deutlich sichtbarer Ruck durch ihren Körper – nonverbale, aber entschiedene Zurückweisung einer solchen Zumutung.

Das Deutsch-Russische Haus

Wenngleich ein auf Abwege geratener stellvertretender Direktor wohl kaum als alleinige Ursache für die Abwicklung eines Universitätsinstituts angesehen werden kann, so ist die Schließung des verdienstvollen deutsch-russischen Hauses tatsächlich öffentlich personifiziert worden. Andrej Portnjagin, nach deutschen Vorgängern erster russischer Direktor dieses im März 1993 eingeweihten Begegnungszentrums, antwortete offen auf die Frage nach den Gründen der Schließung dieser Kultur- und Begegnungsstätte, bei der alle Mitarbeiter entlassen worden seien. Bei einer Veranstaltung, an der auch Vertreter der Stadtverwaltung anwesend gewesen seien, habe sich der Kulturattaché des deutschen Generalkonsulats kritisch zur Annexion der Krim durch Russland geäußert. 

Daraufhin sei durch das Justizministerium in Moskau eine Prüfung veranlasst worden, bei der eine weitere Verfehlung zu Tage trat. Eine Schulklasse habe in seinem Haus einen literarischen Abend veranstaltet, bei dem die ostpreußische Heimatdichterin Agnes Miegel im Mittelpunkt stand, die in ihren Gedichten auch Adolf Hitler huldigte. Finanzielle Unregelmäßigkeiten, wie der Öffentlichkeit mitgeteilt worden sei, habe es jedoch nicht gegeben. Die Nutzungsrechte an der Immobilie seien der (russischen) Gesellschaft der Russlanddeutschen übertragen worden, die ihren Sitz in Moskau habe. Portnjagin arbeitet seit seiner Entlassung, also seit etwa einem Jahr, als freiberuflicher Übersetzer und Fremdenführer.

Die Freunde Kants und Königsbergs

Es ist an der Zeit, endlich auf den eigentlichen Zweck der Reise zu sprechen zu kommen, die als „Kantreise“ einen jährlichen Fixpunkt im Leben des in Berlin ansässigen Vereins „Freunde Kants und Königsbergs“ bildet. Der Verein wurde am 12. Februar2011 gegründet, dem Todestag Kants. Gerfried Horst, der Gründer und charismatische Vorsitzende, setzte sich zum Ziel, „die alte Königsberger Tradition des Bohnenmahls wieder in Kants Heimatstadt, dem heutigen Kaliningrad, in Gemeinschaft von Deutschen, Russen und Kant-Freunden aus anderen Nationen fortzusetzen“. Außerdem wollte er, „das geistige Erbe Königsbergs lebendig erhalten und Kants Lehren den heutigen Menschen auf verständliche Weise nahebringen“. Der Verein trage zu Recht den Namen ‚Freunde Kants und Königsbergs‘, da unter den Mitgliedern mehrere direkte Nachkommen von damaligen Königsberger Freunden Kants seien. Dazu gehört auch Marianne Motherby, stellvertretende Vorsitzende, die souverän die Veranstaltungen der Gesellschaft leitete. Höhepunkt einer jeden Kantreise nach Kaliningrad/Königsberg mit Ausflügen, Vorträgen und Konzerten ist stets die Feier von Kants Geburtstag am 22. April.

Gerfried Horst beschreibt auf der Homepage des Vereins, wie das Bohnenmahl entstand: „Kant starb am 12. Februar 1804. Dr. med. William Motherby, der Sohn von Kants Freund Robert Motherby und selbst ein Freund Kants, lud die 22 Teilnehmer der Geburtstagsfeier von 1803 zu einem ‚Erinnerungsfeste‘ am 22. April 1805 in Kants Wohnhaus ein, das nach dem Tod des Philosophen in den Besitz eines Gastwirts gekommen war; dort wollten sie in der gewohnten Umgebung sein Andenken ehren.“

Auch den ungewöhnlichen Namen weiß er zu erklären: „Im Jahre 1814 schlug der Astronom Friedrich Wilhelm Bessel (1784-1846) vor, denjenigen, der jeweils im nächsten Jahr die Rede halten sollte, durch eine silberne Bohne zu bestimmen, die in einem als Nachtisch gereichten Kuchen versteckt wurde. So entstand die Tradition des ‚Bohnenkönigs‘. Die ‚Gesellschaft der Freunde Kants‘ wurde seitdem ‚Bohnengesellschaft‘ genannt und das Festessen an Kants Geburtstag ‚Bohnenmahl‘.“[5]

Immanuel Kant in und um Kaliningrad

Die Kaliningrader sind stolz darauf, dass ihre Stadt für würdig befunden wurde, Austragungsort von Spielen der Fußballweltmeisterschaft zu sein. Die Tatsache, dass vier Vorrundenspiele der Fußballweltmeisterschaft in Kaliningrad ausgetragen werden, rückt diese Region zumindest vorübergehend nicht nur in den Blickpunkt von Fans der dort agierenden Länder, sondern der ganzen Welt. Dennoch ist und bleibt die Exklave eine von der Hauptstadt durch Ländergrenzen getrennte Provinz, die infolge ihrer 700-jährigen deutschen Vergangenheit eine besondere Sensibilität für alles Deutsche besitzt. Beides zusammen bildet einen idealen Nährboden für vorauseilenden Gehorsam von Behörden und Institutionen.

Von vergleichbarer internationaler Bedeutung, so die Hoffnung der regionalen Politik, könnten weltweit ausstrahlende Feierlichkeiten zum 300. Geburtstag eines der ganz großen Philosophen in der Wissenschaftsgeschichte werden, nämlich Immanuel Kants am 22. April 2024. Während der fünf Jahrzehnte dauernden Sowjetherrschaft war die gesamte Region ein militärischer Sperrbezirk, deren Universität weder intellektuelle Brillanz hervorbrachte, noch solche anzog. Dementsprechend provinziell war das Niveau von universitärer Wissenschaft und Forschung, was auch für die Kantforschung zutrifft, wie Insider nicht müde werden zu betonen.

Ein Vortrag von Professor Wladimir Gilmanow, Kultur-, Literatur- und Sprachwissenschaftler an der Universität seiner Heimatstadt, über Kant als essentieller Code für die Beseitigung der Globalgefahren rief zumindest bei so manchem Hörer einiges Erstaunen hervor. Gilmanow gilt in Deutschland als einer der führenden Intellektuellen des Königsberger Gebiets, der sich seit über 20 Jahren gegen alle Widerstände für freundschaftliche Beziehungen zwischen den früheren und den heutigen Bewohnern Königsbergs einsetze.[6] Er ist ein Wissenschaftler, der gern und oft über die großen Fragen unserer Zeit spricht. Er habe das, so betonte er, auch schon in Brüssel vor den Abgeordneten des Europaparlaments getan. Offensichtlich sind seine Vorschläge zur Qualifizierung von Akteuren auf den politischen Bühnen aber (noch?) nicht aufgegriffen worden.

Gilmanow hob die Warnung Kants vor den Erkenntnissen der „mathematisierten Physik“ und dessen Forderung hervor, diesen Erkenntnissen mit der nicht rational erklärbaren, aber fühlbaren „moralischen Hemmung“ zu begegnen, die jeder Mensch besitze. Ethisch begründete er Wachsamkeit gegenüber der Erkenntnistheorie, so könnte man es in moderner Terminologie nennen.  Als aktuelles Beispiel wählte er Frank J. Tiplers Buch „Physik der Unsterblichkeit“, das 1995 in deutscher Sprache erschienen ist. Amazon bewirbt dieses Buch mit einem wahrhaft reißerischen Text: „Die Auferstehung der Toten, die Existenz von Himmel und Hölle und Gott sind physikalisch belegbar – das ist die These des international renommierten Physikers Frank J. Tipler. Mit der analytischen Schärfe eines Naturwissenschaftlers und mit physikalischen Argumenten rekonstruiert er fundamentale Glaubenssätze der Religion und beweist, dass Gott existiert und dass das ewige Leben des Menschen nicht Glaubens-, sondern Tatsache ist. Ein Manifest zur Versöhnung von Wissenschaft und Religion, von Verstand und Gefühl.“[7] 

Der gelernte Physiker fragte sich, ob der Rückgriff auf Kant bei einer Physik der Unsterblichkeit notwendig oder wenigstens hilfreich ist. Er kommt zu dem Schluss: Weder notwendig noch hilfreich, da für ihn Tiplers Buch nichts als Scharlatanerie auf höchstem Niveau ist.

Im Stile eines Gurus gab Gilmanow eine Kostprobe der praktischen Anwendung des kategorischen Imperativs, indem er auch haptisch vorführte, wie sehr er sich von der schönen Frau in der ersten Reihe angezogen fühle. So sehr, dass er sich, ganz im Sinne von Kant, regelrecht Gewalt antuen müsse, diesem Begehren zu widerstehen. Es gelang ihm. Das Ganze war zweifellos sehr unterhaltsam, das Potenzial Kant`schen Denkens für die Beseitigung der Globalgefahren wollte sich dem Hörer allerdings nicht so recht erschließen. Die bereits zitierte gelernte Philosophin meinte anschließend, dass ein solcher Umgang mit Kant in Deutschland undenkbar sei.

Festveranstaltung der Universität im Königsberger Dom

Als Einstimmung auf das Bohnenmahl trafen sich die deutschen und die russischen Gäste im Dom, genossen ein Orgelkonzert und nahmen an einer Festveranstaltung der Universität teil, auf der herausragende Absolventen ausgezeichnet wurden. Wer bei diesem festlichen Anlass allerdings auch eine angemessene Kleidung erwartet hatte, sah mit einem gewissen Befremden auf das lässige Outfit der Laureaten. 

In seinem nicht enden wollenden Grußwort betonte Leonard A. Kalinnikow, Professor an der Universität von Kaliningrad und angeblich Vorsitzender einer interregionalen KantGesellschaft Russlands, dass Kant für ihn, der sich fünf Jahrzehnte mit diesem Denker beschäftigt habe, als ein wahrer Gott dastehe. Das klingt schon merkwürdig, ist er doch wie alle Gesellschaftswissenschaftler zu Sowjetzeiten durch die hohe Schule des wissenschaftlichen Atheismus gegangen.  Als es noch Leningrad hieß, verwandelte die Sowjetmacht in St. Petersburg einen monumentalen Sakralbau auf dem Newski-Prospekt in ein Museum für wissenschaftlichen Atheismus. Die Erinnerungen an einen Bummel entlang dieser prächtigen Straße stiegen auf und ließen sich nicht ohne weiteres zurückdrängen. Es fiel schwer, sich auf den Festvortrag von Professor Alexej Kruglow aus Moskau zu konzentrieren, der über die Memorialisierung Kants in der russischen Literatur sprach. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass weitgehend unklar blieb, weshalb der Referent trotz des von ihm behaupteten „Reichtums und der Vielfalt der Bilder Kants in der russischen Literatur“ gerade diese Facette der Rezeption herausgesucht hatte. Auch er wollte, wie so manche russischen Schriftsteller weniger über Kant und dessen Denken, sondern lieber über dessen Tod reden. Er tat das unter fast allen denkbaren Aspekten, angefangen bei „Die Philosophie Kants auf dem Friedhof“ über „Kant als Leiche“, über seinen Schädel und die Totenmaske bis hin zu Büsten und Denkmalen. Am Ende landete er bei Vorwürfen an die Neukantianer, welche „die Überreste des Weisen umsonst gestört und seine ehemals revolutionäre Philosophie tot gemacht haben“. Ins Heute zielend stellte er fest, dass es an uns selbst liege, kein ernsthaftes Gespräch auf Augenhöhe mit diesem Königsberger Philosophen zu führen, „ohne seine Philosophie platt und tot zu machen“.

Das ehemalige Pfarrhaus in Judtschen bei Interburg

Ein Zeugnis der Bemühungen der Kaliningrader Gebietsregierung, auch außerhalb Königsbergs liegende wichtige Orte des Gedenkens an Kant finanziell zu fördern, ist im ehemaligen Judtschen zu besichtigen, heute Wessjolowka. Das ehemalige Pfarrhaus, in dem Kant einige Jahre als Hauslehrer lebte, soll bis 2024 „auf Hochglanz“ gebracht werden. Noch im Mai 2015 war das Haus dem Verfall preisgegeben und erste Proteste gegen eine Renovierung gab es auch. „Kant ist ein Trottel“ wurde auf Russisch an die Fassade geschmiert, von einer 17jährigen Pädagogikstudentin, wie die Behörden ermittelten.[8]

Die Pläne für den Wiederaufbau sehen vor, „irgendwann in Wessjolowka ein Museum der Einwanderer zu schaffen, das von der Geschichte der Besiedlung des ländlichen Ostpreußens im 18. Jahrhundert und später des Kaliningrader Gebietes zur sowjetischen Zeit erzählen wird“, sagt Andrej Silber, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Academia Kantiana. So lange wolle er nicht warten, erklärte Dr. Dierk Loyal als er dem Kunsthistorischen Gebietsmuseum Exponate seiner Vorfahren spendete, die einst in Judtschen lebten.

Das Bohnenmahl

Nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Politiker und prominente Vertreter der Kaliningrader Bürgergesellschaft zelebrierten als russisch-deutsche Festgemeinde das Bohnenmahl an aufwändig gedeckten Tischen und ganz im Geiste der sprichwörtlichen russischen Gastfreundschaft. Auf die Bohnenrede der Kaliningrader Malerin Nelly Smirnjagina hatte Professor Matthias Weber aus Oldenburg durch seinen Vortrag über Kant in der modernen Kunst die Freunde Kants und Königsbergs bereits am Vortag bestens eingestimmt. Die Rede selbst, die Trinksprüche und die lockere Atmosphäre gaben der Hoffnung Nahrung, dass ein Rückfall der jungen russischen Eliten in die sowjetischen Denkmuster wenig wahrscheinlich und ein Bruch alter Freundschaften wahrlich nicht zu befürchten ist. Nur am Rande sei dennoch vermerkt, dass die gar nicht so selten anzutreffende Vereinnahmung von Kant mit der Formel „unser Landsmann Kant“ durch Politiker, Wissenschaftler und Journalisten vor Ort bei so manchem Vertriebenen noch immer Beklemmungen auslöst. 

Zurück nach Dresden

Wer der zweisprachigen, also russischen und englischen, Ausschilderung folgt, landet unweigerlich im Transitraum für die Inlandflüge nach Moskau oder St. Petersburg, den bevorzugten Zielen der Russen aus dem Kaliningrader Oblast. Wer allerdings russisch spricht und auch die örtliche Mentalität kennt, fragt das Personal so oft es geht, ob denn die Schilder auf der Baustelle „Ausreiseterminal“ auch den richtigen Weg weisen. Und nur dieser erreicht ohne weitere Umwege den Transitraum für Flüge ins Ausland, z. B. Polen oder Litauen, die benachbarte ehemalige Sowjetrepublik. Doch ist das alles kein Grund zur Beunruhigung, denn bis zum 16. Juni sind ja noch mehr als nur drei Tage Zeit.


[1] Vgl. https://us16.campaign-rchive.com/?u=655ed6543724ad0031c42d4be&id=0a34964e74.

[2] https://www.sports.ru/tribuna/blogs/konigsbergen/1637593.html

[3] Vgl.  https://us16.campaign – archive.com/?u=655ed6543724ad0031c42d4be&id=0a34964e74.

[4] Königsberger Express Nr. 11/16 S. 15.

[5] Gerfried Horst: Die Gesellschaft der Freunde Kants

[6] Vgl. http://www.ostpreussen.de/portal/nachrichten/artikel/spitzenvortrag-zum-jubilaeum.html

[7] Werbung durch Amazon, aufgerufen am 04.05.2018.

[8] Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 17. Mai 2015, S. 9.

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