„Was hat Sie zu dieser Reise veranlasst?“ wurde ich während der Reise von einigen Mitreisenden gefragt. Eine verständliche Frage, da ich die einzige Japanerin unter 40 Mitreisenden war und der Weg von Japan nach Königsberg sehr lang ist. Es mag sein, dass die Verbindung zwischen Japan und Königsberg bzw. Ostpreußen etwas seltsam anmutet. Aber es gibt tatsächlich zwischen beiden, zumindest von der japanischen Seite her, eine nicht unbedeutende Beziehung.
In Japan hat man bei der Modernisierung ab 1868 vieles vom ehemaligen Preußen gelernt und übernommen. Die damalige Reichsverfassung, die erste moderne japanische Verfassung, proklamiert 1889, wurde nach dem Vorbild der preußischen Verfassung geschaffen. Auch Immanuel Kant ist als die europäische Neuzeit vertretender Philosoph von den japanischen Intellektuellen viel und gern gelesen worden. Mehrmals wurden Gesamtausgaben seiner Werke veröffentlicht, was man zum Teil auch in den Ausstellungen des Kant-Museums im Dom von Königberg sehen kann.
In diesem Zusammenhang muss man jedoch auch die neue, gegenwärtige japanische Verfassung erwähnen. Sie wurde nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen und hat einen besonders wichtigen Artikel, nämlich den Artikel 9, in dem der Verzicht auf kriegerische Auseinandersetzungen erklärt wird. Diese Idee scheint eine große Gemeinsamkeit zu haben mit dem Gedanken, den Kant in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ darlegt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat man in Japan siebzig Jahre lang diesem Prinzip erhebliche Beachtung geschenkt, obwohl man dabei jedoch Kant selbst als dessen fernen Urheber vergessen zu haben scheint.
Es gibt in Japan zwar auch gegenwärtig viele Wissenschaftler, die sich mit Kants Philosophie beschäftigen, andererseits scheint es einfache Leser seiner Werke kaum mehr zu geben, vor allem immer weniger jüngere Leser. Seit einigen Jahren jedoch scheint in Japan Kant wiederentdeckt worden zu sein, und zwar in einer Situation, in der die in der Verfassung verankerte Idee des Friedens in größte Konfrontation zu einer bedenklichen aktuellen Lage geraten ist.
Im letzten Jahr stellte sich nämlich die jetzige japanische Regierung mit den sogenannten „Sicherheitsgesetzen“ gegen die Verfassung. Diese Gesetze wurden trotz des Widerstandes der Bürger im Parlament zur Abstimmung gebracht und schließlich verabschiedet. Dabei handelt es sich um Gesetze, die den Weg zu kriegerischen Einsätzen im Zusammenwirken mit den Bündnispartnern frei machen. Die jetzige Regierung will als nächsten Schritt die Verfassung selbst, vor allem den Artikel 9, der den Krieg verbietet, ändern.
In dieser Situation findet in Japan Kant, unter anderem seine Schrift „Zum ewigen Frieden“, wenn auch in sehr begrenztem Rahmen, wieder Beachtung, und diesmal nicht nur bei Wissenschaftlern, sondern auch bei einfachen, engagierten Bürgern, auch unter jungen Leuten. Auch ich habe erneut Kants Bücher gelesen und erkenne wieder die Aktualität seiner Gedanken. Dies war auch ein Anlass für meine Entscheidung, an dieser Reise teilzunehmen, obwohl ich keine Spezialistin, sondern nur einfache Leserin von Kant bin.
In Königsberg wurden neben Immanuel Kant sowie Johann Georg Hamann z.B. auch E.T.A. Hoffmann, den ich gern gelesen habe, und der Architekt Bruno Taut, der eine enge Beziehung zu Japan hatte, geboren. Johann Gottfried Herder studierte bei Kant in Königsberg, und auch Hannah Arendt, deren Anschauungen ebenfalls mein Interesse gefunden haben, wuchs hier auf. Dieses Königsberg ist mir seit langem eine hochinteressante Stadt gewesen. Aber was ich auf der Reise erlebt oder gelernt habe, hat meine Erwartung übertroffen. Ich habe vieles über andere bekannte und unbekannte Leute gelernt, die in dieser Stadt und in ihrer Umgebung gelebt haben. Was vor allem einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen hat, ist das, was ich über das – verlorene – Leben der ehemaligen Bewohner gehört und zum Teil gesehen habe, zu deren Angehörigen nicht wenige Mitreisende zählten. Wir haben nicht nur die Stadt Königsberg, sondern auch andere interessante Städte wie Rauschen und Insterburg besucht, die ich nicht gekannt hatte. Und was für eine Freude – die Landschaft: ostpreußische Heide, Dörfer, Ostseestrände, wie sie z.B. Johannes Bobrowski in seinen Gedichten beschrieben hat und wie ich sie mir bisher nur vorgestellt habe, in der Wirklichkeit mit eigenen Augen gesehen zu haben!
Es ist zwar bedauerlich, dass fast alle Spuren der Genannten sowie der ehemaligen Bewohner wegen der Bombardierung im Zweiten Weltkrieg verloren gegangen sind. Aber ich finde es wunderbar und anerkennenswert, dass Menschen, die sich herzlich an sie erinnern, jedes Jahr diesen Ort auf diese Weise besuchen und nicht nur den Spuren der ehemaligen folgen, sondern auch den Austausch mit den gegenwärtigen Bewohnern wiederholt pflegen, d.h. Brücken zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Ost und West bauen wollen. Ich freue mich darüber, dass ich auf sehr unmittelbare Weise die Erfahrung teilen konnte und, sei es nur eine Winzigkeit, dazu beitragen konnte, wie man seine eigene Geschichte lebendig macht und fortschreibt. Für diese Gelegenheit danke ich herzlich den Mitgliedern der Freunde Kants und Königsbergs, allen Mitreisenden und allen Menschen, die uns vor Ort freundlich empfangen haben.
© Mai 2016 Mizue Motoyoshi