Der Großvater von Käthe Kollwitz, Julius Rupp, als Vermittler der Lehren Immanuel Kants
Wenn man Leben und Werk von Käthe Kollwitz würdigen will, muss man auch an ihren Großvater mütterlicherseits denken, Julius Rupp, der 1809 in Königsberg geboren und 1884 ebenda gestorben ist. Vor dem Königsberger Dom steht ein Gedenkstein für Julius Rupp mit seinem Relief, eine der frühesten plastischen Arbeiten seiner Enkeltochter Käthe Kollwitz. Darunter steht sein Lebensmotto:
WER NACH DER WAHRHEIT, DIE ER BEKENNT, NICHT LEBT, IST DER GEFÄHRLICHSTE FEIND DER WAHRHEIT SELBST.
Rupp war zunächst Gymnasiallehrer, dann Dozent für Philosophie, Pädagogik und Geschichte an der „Albertina“, der Universität seiner Vaterstadt, und seit 1842 evangelischer Pfarrer. Schon im Jahr darauf kam es zu einem schweren Konflikt zwischen ihm und der Kirchenleitung, weil Rupp eine strikte Trennung zwischen Staat und Kirche forderte, sich also gegen die protestantische Staatskirche wandte, deren Oberhaupt der König von Preußen war. Rupp forderte eine Kirche, „in welcher das Gewissen allein das Recht hat, allen historischen Glauben auszulegen und anzuwenden, und in welcher zweitens die Aufgabe einer Erneuerung des Menschenlebens allein zum Inhalt der kirchlich-religiösen Arbeit und Wirksamkeit gemacht wird.“ Den Sinn der Reformation Martin Luthers sah er darin, zu den Grundsätzen des Urchristentums zurückzukehren und sie im Leben jedes Einzelnen zu verwirklichen.
Wegen seiner abweichenden Ansichten verlor Rupp im Jahre 1845 seine Stelle als Pfarrer und gründete im Jahr darauf die freie evangelisch-katholische Gemeinde, deren Prediger er wurde. Käthe Kollwitz schrieb in ihren autobiographischen Aufzeichnungen: „Die religiöse Basis der Freien Gemeinde war die reine Lehre Christi. Philosophisch schloss sie sich Kant an. Die Gemeindemitglieder hatten einmal wöchentlich ihre Zusammenkünfte, zu welchen jedermann Zutritt hatte und in welchen religiöse Fragen besprochen wurden. Die Sonntagsfeiern bestanden in von Rupp vorgetragenen Predigten, die immer wieder auf die sittliche Freiheit zurückgingen.“
In dieser freien christlichen Gemeinde ist Käthe Kollwitz aufgewachsen. Ihr Großvater Julius Rupp war nicht nur Theologe, er war auch Politiker und Schriftsteller. 1848 begrüßte er die deutsche Revolution; 1849 wurde er vom Königsberger Arbeiterverein als Kandidat für die Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus aufgestellt und in das Parlament gewählt. 1850 begründete er den Königsberger Friedensverein. In einem Aufsatz „Deutschland und der Völkerfriede“ schrieb er 1851:
Man wirft den Friedensfreunden oft vor, dass sie unpraktische Träumer seien. Gerade umgekehrt, der Friede ist eine der ersten Forderungen des gesunden Menschenverstandes, eines der ersten Bedürfnisse des praktischen Lebens; während die romantischen Träumereien in denjenigen Richtungen zu Hause sind, die sich der Idee des Völkerfriedens entgegenstellen.
Julius Rupp hat die Forderungen, die Kant in seinem Traktat „Zum ewigen Frieden“ aufgestellt hat, in praktische Politik umgesetzt. Seine Enkelin Käthe Kollwitz hat den Kampf gegen den Krieg zum wesentlichen Inhalt ihrer Kunst gemacht. 1924 schrieb sie in einem Brief:
Mein Großvater Rupp starb, als ich siebzehn Jahre alt war, also habe ich ihn noch ganz gekannt und ein lebhaftes Erinnerungsbild. … Ich möchte sagen, dass ich in diesen Jahren Großvater und Vater, als von beiden abstammend, in mir fühlte. Den Vater in unmittelbarer Nähe, weil er für mich der Hinüberführer zum Sozialismus war, Sozialismus verstanden als ersehnte Bruderschaft der Menschheit. Hinter dem aber stand Rupp, die Persönlichkeit in der Beziehung nicht zur Menschheit, sondern zu Gott. Der religiöse Mensch.
Wie hat Rupp die reine Lehre Christi und die Lehre Kants verbunden? Das hat er in seinem kleinen Buch „Immanuel Kant. Über den Charakter seiner Philosophie und das Verhältnis derselben zur Gegenwart“ dargestellt, das er 1857 veröffentlichte, um damit Geld für das Kantdenkmal in Königsberg zu sammeln. Er schrieb:
Die ganze Wirksamkeit Kants lässt sich … so zusammenfassen: er hat die Philosophie über die Schranken des Christentums hinausgeführt und sie zu einem Ausdruck des Evangeliums gemacht. Gewiss, das Reich der Freiheit, von dem Kant spricht, ist nichts anderes, als das Gottesreich auf Erden, das Jesus von Nazareth gründen wollte, und die Elementarverbindung der wahren menschlichen Gesellschaft ist nichts anderes, als was wir unter freier Gemeinde verstehen.
Indem wir in unserer Religionsgesellschaft an der allgemeinen Aufgabe des menschlichen Geschlechts arbeiten, zu der Jesus von Nazareth alle Völker der Erde berufen hat, erfüllen wir zugleich eine Pflicht, die unserer Stadt als dem Geburtsort Kants obliegt. Ja, meine Freunde, wenn das, was wir erstreben, einst verwirklicht sein wird, wenn einst alles, was in unserer Stadt lebt, durch den Glauben an die Freiheit zu einer wahren menschlichen Gesellschaft vereinigt sein wird, dann wird man sagen können, Königsberg hat seinem Kant ein Denkmal errichtet, wie er es verdient.
Sehr verehrter Herr Professor Kollwitz, wir freuen uns, dass Sie mit uns in die Stadt gekommen sind, die der Geburtsort Immanuel Kants und Ihrer Vorfahren ist. Ich darf Sie nun bitten, einige Worte zu uns zu sprechen.
© April 2016 Gerfried Horst