Geschichte

Hier diese Straße, hier dieses Haus…

Kaliningradskaja Prawda, 3. Juli 2010

Hier diese Straße, hier dieses Haus …

Nostalgische Reise an Orte, wo sie fast siebzig Jahre nicht war

Gisela Post lebt schon seit langer Zeit in den USA. In diesem Land sind ihre Kinder groß geworden, wurden ihre Enkel geboren. Alles in allem ist sie eine „ausgemachte“ Amerikanerin. Aber Florida,  wo sie lebt, ist gar nicht ihre Heimat. Der Geburtsort, der in ihrem amerikanischen  Pass angegeben ist, ist Königsberg. Und im Traum kehrt Frau Post, die durch das Schicksal Mrs. geworden ist, manchmal in die Stadt ihrer Kindheit zurück …

Vlad Rschewskij

Der jüngere Bruder Giselas, Gerfried Horst, der nach dem Krieg geboren wurde und heute in Berlin lebt, hält sich oft in Kaliningrad auf. Schon dreimal hat er bei uns deutsch-russische Treffen der Freunde Kants organisiert. Immer wieder rief er seine in Amerika wohnhafte Schwester in das frühere Königsberg. Und in diesem Jahr hat sie schließlich zugestimmt zu kommen.

Und ihre Kusine Barbara Backhaus beschloss, ihr Gesellschaft zu leisten. Sie wurde in Braunschweig geboren und lebte dort. Doch jeden Sommer brachte man sie nach Ostpreußen, zu Opa und Oma. Und hier verbrachte Barbara viel Zeit mit Gisela, die nur ein Jahr älter ist als sie. 

Nachdem der „eiserne Vorhang“ gefallen war, ist die jetzt in Hamburg lebende Frau Backhaus schon einmal bei uns gewesen, noch in den Neunzigern. Aber für Frau Post sollte die Reise die erste nach einer ganzen Ewigkeit sein – nach 67 Jahren … 

„Warum bin ich so lange nicht in meine Geburtsstadt gefahren? Vielleicht wollte ich die Erinnerungen einer damals Vierjährigen schützen. Ich dachte wohl auch: Was erwartet mich dort?  Ist in Kaliningrad noch immer der Geist Königsbergs zu spüren?“

Selbstverständlich kann man sich heute auf eine solche Reise vorbereiten. Die „Heimwehtouristen“ der ersten Welle fuhren los und wussten wohl nichts darüber, wie ihre Heimat aussieht und wovon sie lebt. Jetzt dagegen gibt es über Kaliningrad und das Gebiet eine Flut von Informationen, die man leicht finden kann, auch im Internet. Deshalb hatte Frau Post eine Vorstellung darüber, wohin sie fuhr. Und doch ist es eine Sache, die Orte der Heimat auf Fotos, und eine ganz andere, sie mit eigenen Augen zu sehen.

Am 14. April morgens traf sie mit dem Flugzeug aus Newark/USA in Berlin ein. Nach Plan sollte dann der Flug nach Riga folgen und von da weiter nach Kaliningrad. Plötzlich erwachte jedoch in Island ein Vulkan.

Nun hieß es nachdenken, was zu tun sei. Die Flughäfen waren geschlossen, Züge aus Berlin in das frühere Königsberg fuhren nicht mehr (die seit dem 11. Dezember 2009 unterbrochene Eisenbahnverbindung auf dieser Strecke wurde erst am 30. Mai 2010 wiederaufgenommen). Vielleicht war der Vulkan ein Zeichen dafür umzukehren, das Vorhaben aufzugeben, in die Vergangenheit zu reisen?

Jedoch aus Florida nach Berlin gelangen, um dann wieder umzukehren? Das nun doch nicht! Um Mitternacht traten sie die Weiterreise an, im Kleinbus. Er beförderte die Reisenden nach Rauschen (heute: Swetlogorsk), wo sie ein Hotel gebucht hatten. 

Das vom Krieg fast unberührte frühere Rauschen gefiel sehr. „Ich freute mich zu sehen, dass hier noch zahlreiche Häuser stehen, die vor dem Krieg erbaut wurden, im ortstypischen Baustil, “ berichtete Frau Post über ihre Eindrücke. „Ein schöner Anblick sind auch viele neue Häuser, mit herrlichen Schmiedeeisentoren und –zäunen.“

Es folgte dann die Fahrt nach Kaliningrad.

Von ihrem Haus ist nichts übriggeblieben. Selbst die Straße gibt es nicht mehr. Das ganze Viertel hat sich bis zur Unkenntlichkeit verändert.

Das war keine Neuigkeit. Es ist aber trotzdem hart …

Übrigens ist ein deutsches Haus heilgeblieben. Das aus haltbaren roten Ziegeln bestehende Gebäude in der heutigen Rokossowskij-Straße war wie ein alter Bekannter. Die „Palästra Albertina“, der frühere Sportpalast der Königsberger Universität, hat sich in den Sportklub der Baltischen Flotte verwandelt.

„Unser Haus war nebenan, genau hier. Und die Adresse hat sich in das Gedächtnis eingeprägt: Tragheimer Pulverstraße 44 …“

Bis zum Alter von fünf Jahren hat sie dort gelebt, im Haus der Großeltern. Der Großvater, Richard Froese, war Direktor einer Fabrik für Baumaterialien. Eine große, liebevolle Familie. Im Sommer zogen sie immer in ihr Ferienhaus in Cranz (heute Selenogradsk).  

1943 verschlug es Gisela nach Berlin, wo ihre Mama arbeitete. Dann wurden sie nach Breslau evakuiert (das polnische Wroclaw). Danach übersiedelten sie nach Westdeutschland; dorthin kam auch das Familienoberhaupt aus dem Krieg zurück.  

Königsberg aber wurde ein Traum, die Erinnerung an eine glückliche Kindheit.  

„Im Museum ‘Friedländer Tor’ haben wir einen virtuellen Ausflug durch  Königsberg unternommen,“ berichtet Frau Post weiter.  „Gutes altes Königsberg … Wer hier geboren wurde und gelebt hat, dem fällt es schwer, seine Gefühle zurück zu halten. Tränen schimmerten jedoch auch in den Augen von jüngeren Menschen aus unserer Reisegruppe. Auch sie fühlen sich mit dieser Stadt verbunden, dank der Erzählungen ihrer Eltern. 

Und trotzdem, auch wenn in Kaliningrad wenig von Königsberg übriggeblieben ist, – es ist sie, meine Geburtsstadt. Es ist unmöglich, sie nicht wiederzuerkennen. Und wie es scheint, atmet man hier sogar auf besondere Weise …“

Danach besuchten sie noch eine andere, ihrem Herzen liebe Stadt. Ja, Selenogradsk – das ist nicht Cranz, hat nicht die alte Eleganz. Aber dafür erblickten sie das Haus, in dem sie einstmals jeden Sommer wohnten! Ja, es sieht auch nicht so aus wie früher. Auch seine Adresse ist jetzt eine andere: Moskauer Straße 38. Und trotzdem ist es das Haus, dasselbe, mit dem so viele Erinnerungen verbunden sind …

Leider war wenig Zeit, deshalb verschoben sie die Bekanntschaft mit den heutigen Bewohnern des Hauses auf das nächste Mal.

„Was mich wirklich bekümmerte, war der Strand, wo ich als Kind gespielt habe“, seufzt Frau Post. „Er ist so schmal geworden. Mir scheint, er ist nur noch halb so breit. Grund dafür ist offenbar, dass man die Wellenbrecher nicht erhalten hat, und so kann die See ungehindert den Strand wegspülen.“

Frau Backhaus erinnert sich plötzlich daran, wie sie als kleines Mädchen an diesem Strand unter den vielen Urlaubern und den Strandkörben herumlief. Manchmal hat sie ihre Mutter nicht wiedergefunden. Sie lief dann zum Strandvogt, der über Lautsprecher ausrufen ließ: „Ein kleines Mädchen namens Bärbel sucht ihre Mutter!“ Und bald darauf kam ihre Mama und holte sie ab. 

Barbara blieb bis Oktober 1944 in Königsberg. Dann kam ihr Vater auf Urlaub und verlangte, dass Mutter und Kind unverzüglich in das weiter von der Front entfernte Braunschweig zurückkehren sollten. Die Oma (der Opa starb im Oktober 1943) sagte: „Es wird wieder gut!“ Aber Barbaras Vater bestand darauf: „Wenn es wieder gut wird, dann könnt ihr ja zurückkommen; aber jetzt müsst ihr fahren.“ 

Nur drei Monate später, Ende Januar 1945, saß die Oma, die so sehr ihre Heimatstadt nicht verlassen wollte, auf  zwei Koffern im Keller des zerstörten Wohnhauses der Familie. Einer ihrer Söhne brachte sie im Auto nach Pillau (Baltijsk), wo sie mit vielen anderen Flüchtlingen auf ein Schiff stieg und Ostpreußen für immer verließ … 

P.S. Nächstes Jahr haben Gisela Post und Barbara Backhaus sich vorgenommen, wieder unser Gebiet zu besuchen. Nicht alles in der Heimat hat sie froh gestimmt. Aber ihr allgemeiner Eindruck von der HeimwehReise war sehr gut. Deshalb möchten sie wiederkommen. 

Bildunterschriften:

Großes Foto: „2010. Barbara Backhaus (links) und Gisela Post vor ihrem ehemaligen Haus im ehemaligen Cranz (heute: Selenogradsk)) …

Rundes Foto: „ … und wieder sie – zu Beginn der vierziger Jahre am Strand in Cranz.“

Rechtes Foto oben: „In Königsberg wohnten sie in der Tragheimer Pulverstraße 44. Heute kann man dieses Haus nur noch auf einer alten, vergilbten Fotografie sehen.“

Foto unten: „Promenade in Cranz im Sommer 1940. Gisela sitzt im Kinderwagen, und im Kinderwagen rechts schläft friedlich ihr jüngeres Kusinchen Barbara.“

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