Geschichte

Kantvortrag in Kaliningrad

Kantvortrag in Kaliningrad (Zum 22.April 2008)

Es bewegt mich schon sehr, an diesem Ort zu Immanuel Kants 284. Geburtstag sprechen zu dürfen. Sein philosophisches Lebenswerk ist enorm. Man muss fragen, ob jemand gründlicher nachdenken konnte als er?

Vor 213 Jahre sah Kant unsere heutigen Probleme voraus. Seine späte Schrift „Zum ewigen Frieden“ verstehe ich als einen Appell an alle heute Lebenden. Bevor ich aber detaillierter darauf eingehe, möchte ich gerne noch erwähnen, dass Kaliningrad auch der Ort ist, an dem mein Großvater mütterlicherseits Königsbergs Stadtbaurat war und meine Eltern mit ihrem „Königsberger Streichquartett“ viele Konzerte gaben. Ich selbst habe hier von 1928 bis 1948 die ersten 20 Jahre meines Lebens verbracht. Das mag eine kurze Zeitspanne in der 700 jährigen Geschichte einer Stadt sein, nur, es war leider genau der Zeitraum, in dem Königsberg erst politisch und im Krieg dann militärisch zu Grunde gerichtet wurde. Was Jahrhunderte gebraucht hat, um mühsam aufgebaut, entwickelt und vollendet zu werden, starb in wenigen Jahren durch den von Hitler auf die Menschen übertragenen Wahnsinn. Mit meinem früh erwachenden Bewusstsein habe ich das hautnah und schmerzvoll miterlebt. 

Aber heute denken wir an Immanuel Kant, der den guten Ruf Königsbergs verkörperte. Kant beeinflusste das geistige und menschliche Klima der Stadt, die ihrerseits Kant eine Heimat gab, die er, nach seinen Worten, mit keiner anderen vertauschen wollte. Es waren Kants hohe und tiefe Gedanken, die nicht nur meine deutsch-jüdische Mutter beeinflussten, sondern alle in Königsberg lebenden Menschen. Auch wer seine Schriften nicht oder nur oberflächlich kannte, merkte sich aber seine weisen Lehrsätze, und die blieben nicht ohne Wirkung. Bevor ich über Kants Idee vom Völkerstaat spreche, möchte ich einige Beispiele geben, wie man in Königsberg „kantianisch“ erzogen wurde:

Wenn ich z. B. morgens nicht rechtzeitig aus dem Bett kam, half meine Mutter mit den Worten nach: „Es ist Zeit, dass du deinen täglichen Pflichten nachkommst.“ Das suggerierte doch schon sehr früh Pflichterfüllung als Lebenssinn. Für das Kind, also für mich, bestanden die Pflichten darin, im Winter morgens den Brennkoks aus dem Keller zu holen und oft auch die Milch aus der Meierei von nebenan. Beklagte ich mich über die ewigen Pflichten, war gleich wieder Kant zur Stelle. „Lerne früh deine Pflichten gerne zu tun, sonst wird das Leben schwer werden.“ 

Und nun kehre ich schnell einmal die über einen längeren Zeitraum verstreuten Kantzitate zusammen, die mir meine Mutter damals einzuprägen bemüht war.

Freute ich mich etwas zu laut über ein Lob, hörte ich von ihr folgendes Kantzitat: „Es täuscht sich der Mensch in nichts leichter als in dem, was die gute Meinung von sich selbst begünstigt.“ Das behält man lebenslang im Gedächtnis.

Wenn mir die Arbeit zu viel wurde, hieß es: „Arbeit ist die würdigste Form, das Leben zu genießen.“ Hier erkennt man gleich, dass Kant niemals in einer Fabrik am Fließband arbeiten musste. (Als ich diesen Kantsatz zu einer nach Amerika ausgewanderten Schulfreundin sagte, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen und rief: „Good heavens, it took me years to get over that!“

War der spärliche Arbeitslohn zu wenig, um etwas besonderes zu kaufen, hieß es: „Reich ist man nicht durch das, was man besitzt, sondern mehr noch durch das, was man mit Würde zu entbehren weiß, und es könnte sein, dass die Menschheit reicher wird, indem sie ärmer wird, und gewinnt, indem sie verliert.“ Ich fragte sie, woher weiß denn der Mensch überhaupt, was jeweils richtig und was falsch ist? „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ Das musste sie aber drei Mal wiederholen, ehe ich es verstand und es dann haften blieb. Und was für eine Rolle spielt denn Gott bei alledem? „Gott ist kein Wesen außer mir, er ist nur ein Gedanke in mir.“ Ja, wenn das so ist, warum streiten sich dann die Menschen um Gott? „Der Mensch hat die Fähigkeit, Eingebildetes, Vorgestelltes und Scheinbares für wahr zu halten.“ Und warum soll man IHN dann in Kirchen, Synagogen oder Moscheen gottesdienstlich ehren? „Kirchgang ist Götzendienst und jede gottesdienstliche Religion basiert auf dem Prinzip, so wie ich dir, so du mir.“ Nach welcher der unterschiedlichen Moralen und Religionen soll der Mensch denn leben? „Nach der Vernunft dürfte es nur eine Moral und eine Religion geben.“ Und so lange es die nicht gibt, wie schafft man dann Frieden unter den Menschen und vor allem unter den Völkern? „Na ja, Frieden unter den Menschen wird immer schwierig bleiben, `denn aus so krummen Holz, wie der Mensch gemacht ist, ist nichts Gerades zu biegen´“. Aber Kant war davon überzeugt, dass ewiger Frieden unter den Völkern nur durch die Bildung eines Völkerstaats geschaffen werden kann. Und diese Idee Kants reichte sie mir wie sein Vermächtnis weiter. Bald danach starb sie.

Auch Immanuel Kant starb 9 Jahre, nachdem er 1795 seine kluge Schrift „Zum ewigen Frieden“ verfasst hatte, die ich leider aus Zeitmangel nur schnell zusammengerafft skizzieren kann. Sein Schrift sollte aber Pflichtlektüre sein, besonders für Politiker. Ich bin davon überzeugt, dass es jedem einsichtig sein muss, dass in einer in allen wichtigen Belangen globalisierten Welt die anstehenden Probleme auch nur durch globale Regelungen gelöst werden können. Und unter allen wichtigen Problemlösungen, die es gibt, ist die Schaffung eines friedlichen Miteinanders der Völker – also aller Menschen auf der Welt – die wichtigste.

Kant hat in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ begründet, warum dauerhafter Frieden nur durch einen „Völkerstaat“ – nicht „Völkerbund“ – geschaffen werden kann. Der Unterschied besteht darin, dass der Völkerbund souveräne Staaten verbindet, die keine gemeinsame Obrigkeit anerkennen. Zur Natur eines Staates gehört es aber, eine Obrigkeit zu haben, die von den Staatsbürgern des Staates – oder eben von den Völkern eines Völkerstaats – anerkannt wird. Nur ein Völkerstaat, der sich einer Obrigkeit unterstellt, hat die Chance, ewigen Frieden zu schaffen, während ein Völkerbund, der keine gemeinsame Obrigkeit anerkennt, höchstens ausgebrochene Kriege beenden, nicht aber auf Dauer unterbinden kann. 

Im Originalton Kants heißt das so: „Für Staaten im Verhältnisse untereinander kann es nach der Vernunft keine andere Art geben, aus dem gesetzlosen Zustande, der lauter Krieg enthält, herauszukommen, als daß sie ebenso wie einzelne Menschen ihre wilde (gesetzlose) Freiheit aufgeben, sich zu öffentlichen Zwangsgesetzen bequemen und so einen (freilich immer wachsenden) V ö l k e r s t a a t  (civitas gentium), der zuletzt alle Völker der Erde befassen würde, bilden…“ 

Für Kant gibt es drei Formen, wie ein Volk beherrscht wird, nämlich entweder durch einen oder durch einige oder durch alle (Autokratie, Aristokratie, Demokratie – Fürstengewalt, Adelsgewalt und Volksgewalt); und es gibt für ihn nur zwei Formen, wie eine Regierung ihre Macht gebraucht – entweder republikanisch oder despotisch. Republikanisch ist sie, wenn die Bürger bestimmen, despotisch, wenn einer oder einige bestimmen.

Die Bösartigkeit der Menschen steht für Kant außer Frage. Sie wird zwar durch Kultur verdeckt, fällt aber unverdeckt im Verhältnis der Staaten zueinander ins Auge. Zu Kriegen kommt es durch die Anhäufung von Macht: Heeresmacht, Bündnismacht und Geldmacht, und Kant fügt hinzu, dass die letztere wohl das zuverlässigste Kriegswerkzeug sein dürfte. Alle diese drei Machtinstrumente sind mit einem – ich nenne es einmal so – Selbstzündermechanismus versehen. Wer also meint, mit Vermehrung von Heeres-, Bündnis- und Geldmacht seine Sicherheit zu vergrößern, erreicht genau das Gegenteil. Seine Sicherheit bedroht die Sicherheit anderer und zwingt diese ebenfalls zum Handeln – eine Situation, die sich bisher unzählige Male wiederholte.

Kant kommt es auf klare Trennung zwischen einer grundgesetzgebenden Instanz und einer primär für die Ausführung der Grundgesetze zuständigen Regierungsgewalt an. Kant hat dafür guten Grund: „weil“ (ich zitiere Kant) „der Besitz der Gewalt das freie Urteil der Vernunft unvermeidlich verdirbt“. Die grundgesetzlose Demokratie lehnt er ab, da innerhalb einer (Nur)Demokratie (über)lebenswichtige Gesetze, von jedes Mal wechselnden Mehrheiten neu, und völlig uneingeschränkt durch übergeordnete Grundgesetze, beschlossen (oder abgelehnt) werden können. Gesetze, die dann gegen den Willen einer starken Opposition – also gegen einen großen Teil des Volkes – in Kraft treten können. 

Die kantische Republik basiert auf einem alle lebenswichtigen Belange abdeckenden Grundgesetzrahmen, für den ein überparteiliches Gremium, ein Rat der Weisen, in dem man auch die Philosophen anhören soll, also eine kompetente Verfassungskommission für die Gesetzesformulierungen verantwortlich ist. Auch eine Weltregierung hätte sich einem solchen von den Menschen dann zu billigenden Gesetzesrahmen unterzuordnen. Die Regierenden sollten nur die ausführende Gewalt haben, und ihre gesetzgeberische Befugnisse wären hauptsächlich auf Ausführungsbestimmungen beschränkt. In Kants Republik wäre es zum Beispiel nicht möglich, dass viele Regierungen mit knapper Mehrheit – also gegen den Willen eines großen Teils des Volkes – Militäreinsätze, Rüstungsexporte oder den Bau Zukunft gefährdender Installationen beschließen könnten. Deshalb entspricht auch die Bundesrepublik Deutschland, die zwar auch einem Grundgesetz verpflichtet ist, noch lange nicht Kants Vorstellung von einer alle Staaten der Welt umfassenden Republik.

Gesetze dürften die großen starken Staaten nicht begünstigen. Andererseits muss ein numerisches Diktat der vielen kleinen Staaten über die wenigen großen verhindert werden, was ja rein demokratischen Prinzipien entsprochen hätte – die Kant aber gerade deshalb ablehnt. Eine Weltregierung sollte – das wäre heute vorrangig – NaturschutzAuflagen machen, da die vielfältigen Vergiftungen unsere Natur zerstören, von der das Leben aller Geschöpfe und aller Völker abhängt, also naturerhaltende Normen bestimmen. Kants Völkerstaat muss medizinischen, technischen und materiellen Austausch regeln, einen Lastenausgleich vorschlagen, Arbeit und Ernährung organisieren helfen, Ressourcen schützen, Rüstung, stehende Heere und Kriege verbieten, Kapitalmacht einschränken, Frauen den Männern gleichstellen und vieles mehr.

Kant ist auch überzeugt, dass man mittels einer solchen durch Grundgesetze bestimmten republikanischen Verfassung böse Menschen zu gutem Verhalten zwingen kann. Er sieht sehr wohl, dass unterschiedliche Religionen und Sprachen – das Aussehen der Menschen zählt für ihn nicht – die Völker trennen, erkennt aber auch, dass der Handelsgeist sie wieder verbindet (ich zitiere): „wie überhaupt die Natur die Menschen durch wechselseitigen Eigennutz vereinigt“. Ferner meint Kant, dass es nach der Vernunft nur eine Religion und auch nur eine Moral geben dürfte. An solchen Gedanken besonders erkennt man in Kant den Philosophen der Aufklärung.

Angesichts der unterschiedlichen geographischen Lebensbedingungen der Völker, ihrer Reichtümer und ihres Bildungsniveaus, angesichts der gleichzeitig zunehmenden biologischen, chemischen und atomaren Bewaffnung selbst kleiner Völker ist es eine Überlebensfrage geworden, einen Gesetzesrahmen für die hier absolut notwendigen Einschränkungen zu schaffen, dem alle, möglichst freiwillig, zustimmen müssten. 

Der heutige Stand der Technik hat Kriege mit der Gefahr totaler Selbstzerstörung verbunden. Schon ein Reagenzglas mit hochgefährlichen Substanzen, in einer Großstadt freigesetzt, würde diese auf Jahrzehnte entvölkern können. Aber selbst bei solchen drohenden Gefahren wird es Frieden zwischen den Völkern erst geben, wenn alle Völker sich verpflichten, auf die gewaltsame Austragung von Streitigkeiten und die Herstellung von Massenvernichtungswaffen zu verzichten, und das darf nicht noch länger als eine nicht zu verwirklichende Utopie angesehen werden. Das ist eine Frage des weiteren Überlebens geworden.

Ich bin der Ansicht, wenn es den Menschen in der Vergangenheit nach und nach gelungen ist, das Faustrecht abzuschaffen und sich darüber einig zu werden, ernstere Streitigkeiten vor Gericht auszutragen, müsste es auch den 196 Staaten dieser Erde möglich sein, in Zukunft das Faustrecht – nämlich den Krieg zwischen den Völkern – abzuschaffen und ihre ernsteren Streitfragen von einem internationalen Gericht, also einer Obrigkeit, entscheiden zu lassen – zumal in einer Zeit, in der doch kein Volk vernünftigerweise die ins Unvorstellbare vergrößerten Risiken eines Krieges auf sich nehmen dürfte, der, wenn er wie alle Kriege wieder eskaliert, ganz gewiss auch mit den dann zur Verfügung stehenden Waffen ausgefochten würde. Kant meinte damals schon hellsichtig: „ewiger Friedhof“ wäre die Alternative zum „ewigen Frieden“.

Kants Forderungen (die ich nur als Voraussetzung, als einen wichtigen Schritt in Richtung Völkerstaat verstehe) hören sich relativ einfach an. Der erste Definitivartikel seiner Schrift lautet: „Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein.“ Die republikanische Idee verknüpft er mit seinem Freiheitsbegriff. In einer Fußnote schreibt er dazu: „Rechtliche (mithin äußere) F r e i h e i t  kann nicht, wie man wohl zu tun pflegt, durch die Befugnis definiert werden: alles zu tun, was man will, wenn man nur keinem Unrecht tut… Vielmehr ist meine äußere (rechtliche) F r e i h e i t  so zu erklären: sie ist die Befugnis, keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meine Beistimmung habe geben können.“ 

Der zweite „Definitivartikel“ lautet: „Das Völkerrecht soll auf einen F ö d e r a l i s m freier Staaten gegründet sein.“ Dazu erläutert Kant (ich zitiere): „Völker als Staaten können wie einzelne Menschen beurteilt werden, die sich in ihrem Naturzustande (d. i. in der Unabhängigkeit von äußern Gesetzen) schon durch ihr Nebeneinandersein lädieren, und deren jeder um seiner Sicherheit willen von dem andern fordern kann und soll, mit ihm in eine der bürgerlichen ähnliche Verfassung zu treten, wo jedem sein Recht gesichert werden kann… Gleichwie wir nun die Anhänglichkeit der Wilden an ihre gesetzlose Freiheit sich lieber unaufhörlich zu balgen, als sich einem gesetzlichen, von ihnen selbst zu konstituierenden Zwange zu unterwerfen, mithin die tolle Freiheit der vernünftigen vorzuziehen, mit tiefer Verachtung ansehen und als Rohigkeit, Ungeschliffenheit und viehische Abwürdigung der Menschheit betrachten, so, sollte man denken, müssten gesittete Völker (jedes für sich zu einem Staat vereinigt) eilen, aus einem so verworfenen Zustande je eher desto lieber herauszukommen …“ (Zitat- ende).

Der dritte „Definitivartikel“ besagt: „Das W e l t b ü r g e r r e c h t  soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein.“ Damit sind die Verweil- und Bleiberechte angesprochen, die uns heute durch die Wohlstandswanderungsbewegungen besonders angehen. Kant hat schon damals unsere Asylproblematik vorausgesehen und durch Regeln weltweit klären wollen. Auch hier kurz der Originalton Kants: „Vergleicht man hiermit das i n h o s p i t a l e  Betragen der gesitteten, vornehmlich handeltreibenden Staaten unseres Weltteils, so geht die Ungerechtigkeit, die sie in dem B e s u c h e  fremder Länder und Völker (welches ihnen mit dem E r o b e r n  derselben für einerlei gilt) beweisen, bis zum Erschrecken weit. Amerika, die Negerländer, die Gewürzinseln, das Kap etc. waren bei ihrer Entdeckung für sie Länder, die keinem angehörten; denn die Einwohner rechneten sie für nichts. In Ostindien (Hindustan) brachten sie unter dem Vorwande bloß beabsichtigter Handelsniederlagen fremde Kriegesvölker hinein, mit ihnen aber Unterdrückung der Eingebornen, Aufwiegelung der verschiedenen Staaten desselben zu weit ausgebreiteten Kriegen, Hungersnot, Aufruhr, Treulosigkeit, und wie die Litanei aller Übel, die das menschliche Geschlecht drücken, weiter lauten mag.“ Und an anderer Stelle heißt es: „Es ist hier. . .die Rede vom Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen von diesem nicht feindselig behandelt zu werden. Dieser kann ihn abweisen, wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann, solange er aber auf seinem Platz sich friedlich verhält, ihm nicht feindlich begegnen. Es ist kein G a s t r e c h t, worauf dieser Anspruch machen kann (wozu ein besonderer wohltätiger Vertrag erfordert werden würde, ihn auf eine gewisse Zeit zum Hausgenossen zu machen), sondern“ – und jetzt kommen die entscheidenden Worte – „ein B e s u c h s r e c h t, welches allen Menschen zusteht, sich zur Gesellschaft anzubieten vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde, auf der als Kugelfläche sie sich nicht ins Unendliche zerstreuen können, sondern endlich sich doch nebeneinander dulden müssen, ursprünglich aber niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat, als der andere.“

Kants „Präliminarartikel“ sind wie Aufnahme- oder Verhaltensbedingungen. Wichtig sind auch seine klugen Kommentare, die man nachlesen sollte. Nur handelt es sich hier um Übergangsregelungen, die sich natürlich nach der Bildung eines Völkerstaats erübrigen würden. Erwähnen möchte ich sie dennoch:

1. „Es soll kein Friedensschluß für einen solchen gelten, der mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffs zu einem künftigen Kriege gemacht worden.“ 

2. „Es soll kein für sich bestehender Staat (klein oder groß, das gilt hier gleichviel) von einem andern Staate durch Erbung, Kauf oder Schenkung erworben werden können.“

3. „Stehende Heere sollen mit der Zeit ganz aufhören.“ Kants Begründung hierzu: „Denn sie bedrohen andere Staaten unaufhörlich mit Krieg durch die Bereitschaft, immer dazu gerüstet zu erscheinen; reizen diese an, sich einander in Menge der Gerüsteten, die keine Grenzen kennt, zu übertreffen, und indem durch die darauf verwandten Kosten der Friede endlich noch drückender wird als ein kurzer Krieg, so sind sie selbst Ursache von Angriffskriegen, um diese Last loszuwerden; wozu kommt, daß, zum Töten oder getötet zu werden in Sold genommen zu sein, einen Gebrauch von Menschen als bloßen Maschinen und Werkzeugen in der Hand eines andern (des Staats) zu enthalten scheint, der sich nicht wohl mit dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person vereinigen läßt…“. Hier hat Kant in vortrefflicher Weise analysiert, was ich vorher mit dem Begriff „Selbstzündermechanismus“ gemeint habe.

4. „Es sollen keine Staatsschulden in Beziehung auf äußere Staatshändel gemacht werden.“ 

5. „Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines andern Staats gewalttätig einmischen.“ Das heißt, dass man kulturelle Verschiedenheiten zu respektieren hat.

6. „Es soll sich kein Staat im Kriege mit einem andern solche Feindseligkeiten erlauben, welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen: als da sind Anstellung der M e u c h e l m ö r d e r,  G i f t m i s c h e r, Brechung der Kapitulation, Anstiftung des Verrats in dem bekriegten Staat etc.“

Es ist offensichtlich, dass die heutige UNO Kants Vorstellung von einem Völkerstaat noch nicht entspricht. Der müsste ja von supranationalen gesetzgeberischen Gremien und ebensolchen Exekutiven in ähnlicher Weise regiert werden wie ein republikanischer Nationalstaat – mit verfassungsgebender Versammlung, Regierungsgewalt und für alle verbindliche Verhaltensverpflichtungen. Die UNO entspricht sicher einem Völkerbund, den er aber ja nur als Zwischenstadium auf dem Weg zum Völkerstaat betrachtete. 

Dass die UNO so ist, wie sie ist, hat Gründe: Die Charta der Vereinten Nationen wurde am 26. 6. 1945 durch 50 Gründungsmitglieder in San Francisco beschlossen und ist am 24. 10. 945 in Kraft getreten. Die UNO ist somit eine Reaktion auf den letzten Weltkrieg. Die damaligen Siegermächte hatten gewiss die Absicht, zukünftige Kriege zu verhindern, wollten aber gleichzeitig ihre in einem schweren Krieg erkämpfte, die Welt beherrschende Position nicht durch Gleichstellung mit anderen Staaten aufgeben. Eine ähnliche Situation hatten wir schon am 28. 4. 1920, als man nach dem Ersten Weltkrieg den Völkerbund gründete und die Siegermächte – Frankreich und Großbritannien – sich privilegierten. 

So durchbrach auch die UNO den wichtigen Grundsatz von der im Artikel 2 Nr. 1 verkündeten „souveränen Gleichheit“ aller Mitglieder, indem sie den „fünf Großmächten“ im Sicherheitsrat eine bevorzugte Stellung einräumte. 

Machten schon die Privilegien der fünf Großmächte den Gleichheitsartikel zur Farce, so ließ der Artikel 27,1 wiederum den Sicherheitsrat zur Farce werden. Der Artikel 27,1 besagt, dass ein Beschluss des Sicherheitsrats nur rechtskräftig ist, wenn neun Mitglieder zustimmen. Und der Pferdefuß ist, dass sich unter den zustimmenden Mitgliedern sämtliche ständigen Mitglieder befinden müssen. Das bedeutet in der Praxis, dass jede der fünf Großmächte mit ihrem Veto die Handlungsfähigkeit der gesamten UNO lahm legen kann. Die uns allen bekannte Rivalität zwischen Ost und West, aber auch zwischen den anderen Großmächten, führte dazu, dass eine der Großmächte in der Regel die Vorschläge der anderen durch ihr Veto blockierte. In den geschichtlich entscheidenden Momenten der jüngsten Vergangenheit war die UNO deshalb in der Regel handlungsunfähig. Man wundert sich über die Architekten der UNO, die solche Konsequenzen nicht vorausgesehen haben. 

Ohne einen globalen Völkerstaat (wie von Kant vorausgedacht) würde es auch keine globale Schutzgemeinschaft geben können, in der alle Völker in Frieden nach innen und außen leben könnten. Kriegsrecht, also das Recht des Stärkeren, hat sich als untauglich erwiesen, für einen Frieden zwischen autonomen Nationalstaaten zu sorgen, bei dem die Wiederkehr von Krieg ausgeschlossen ist. Die gegenwärtige Situation der Welt beweist es aufs Neue. Man kann nicht Schwarz mit Schwarz auslöschen, Lärm durch Lärm beseitigen oder Verbrechen mit Verbrechen beantworten, um menschliche Gemeinschaftsgebilde zu Toleranz und friedlicher Kompromissbereitschaft zu bringen. Denn nach dem Prinzip Zahn um Zahn zu handeln, bedeutete im gegebenen Fall, ebenfalls Verbrechen an Unschuldigen zu begehen. Das ist doch unter gar keinen Umständen akzeptabel.  Menschlichkeit darf nicht mit zweierlei Maß gemessen werden. Mord mit Mord zu beantworten, macht den, der mordet, ebenfalls zum Mörder, und man befindet sich in einem Teufelskreis des Bösen aus dem man nicht mehr herauskommt, bevor nicht alles in Trümmern liegt. Wegen all dieser schon geäußerten Fakten ist es unumgänglich notwendig, verbindliche Grundsätze und Regelungen zu schaffen, an die sich alle (wie im Straßenverkehr) halten müssen, denn wer keine Grundsätze hat und befolgt, bleibt unberechenbar (ebenfalls wie Verkehrsteilnehmer, die sich nicht an die Verkehrsregeln halten). Das ist für normale Menschengehirne begreiflich!

An Versuchen, solche Grundsätze zu schaffen, hat es aber in der Vergangenheit nicht gefehlt. Moses mit seiner Gesetzestafel („du sollst nicht töten“), Jesus mit seinen Verhaltensgeboten („liebet eure Feinde“) oder der katholische Katechismus § 1756 : „Du darfst nichts Schlechtes tun, um dadurch Gutes zu bewirken“ (Schlechteres als Krieg und die Ermordung Wehrloser kann es ja wohl nicht geben). Aber diese Empfehlungen haben sich leider doch als zu wenig verpflichtend erwiesen, um sich den Verführungen des Bösen, das sich in der Regel als Gutes tarnt, indem es irgend einen guten Zweck vorgibt, erfolgreich entgegenzustellen.

Was der kluge Denker Immanuel Kant uns deutlich und eindringlich sagen wollte, ist: solange die Völker sich nicht Gesetzen unterzuordnen bereit sind, die ein gemeinsames Überleben ermöglichen, solange wird es auch keinen dauerhaften Frieden geben, der die Wiederkehr von Krieg für alle Zeiten ausschließt. Wenn wir heute zu passiv nur alles so weiterlaufen lassen wie bisher, machen wir uns schuldig. Wir müssen einen Weg suchen, an ihn glauben, ihn gehen, der Fortschritte in Richtung rettenden Friedens verspricht. Die realisierbare Vision ist dabei so wichtig wie ein verständlicher Wegweiser im Straßengewirr, und Kants Idee vom Völkerstaat ist solch eine realisierbare Utopie, oder nennen wir es Vision. Überhaupt, sind denn nicht alle Ideen, die man erst in der Zukunft verwirklichen kann, zuerst so utopisch (oder visionär), wie einst der Traum von der Mondlandung?

Ich will nicht glauben, dass die Menschen zwar eine Landung auf dem Mond organisieren können, aber nicht das überlebenswichtige friedliche Zusammenleben der Völker auf unserer Erde. Solange ein Ende noch offen ist dürfen wir und müssen wir hoffen. Das Verwirklichen eines im kantischen Sinn konzipierten Völkerstaats ist für mich solch eine Hoffnung.

Schlimm wäre eine „Nach mir oder nach unserem Wohlstand die Sintflut-Mentalität“, wie sie bei unzureichenden Beschlüssen, z. B. zur Reduzierung der das Klima beeinflussenden Emissionen, zum Ausdruck kommt. Es wäre ein unverantwortliches Verbrechen gegenüber unseren nachfolgenden Generationen, die uns dafür mit Recht verfluchen müssten.

Das heißt bildlich: das zukünftige friedliche Miteinanderverkehren aller Menschen braucht die selben Miteinanderverkehrsregeln für alle Staaten der Welt mit genauen Ausführungsanweisungen. Das ist eine realisierbare Zukunftsvision. Die Grundpfeiler einer Völkergemeinschaft müssen in jedem Fall demokratisch (republikanisch) und pazifistisch sein. Als Legislative der Zukunft müsste es ein Weltparlament und eine Weltregierung, als Exekutive eine Weltpolizei geben. Auf dem Weg dahin ist noch viel zu tun. Die UNO ist nur ein Schritt in die richtige Richtung. Die löblichen humanitären Hilfeleistungen und das Eintreten für die Menschenrechte sollten wir dabei nicht übersehen. Aber es wird höchste Zeit, neue Satzungen zu konzipieren. Die müssten dann der Völkerstaatvorstellung Kants entsprechen und auch den veränderten Erfordernissen des 21. Jahrhunderts gerecht werden.

Ich sehe keinen anderen Weg, wie man in unserer globalisierten Welt lebenswichtige Aufgaben so bewältigen kann, dass der Kahlfraß der Erde sowie die Raubtier- und Raffgiermentalität von Menschen und Völkern eingedämmt, gebremst werden können. Es wäre aber höchst gefährlich, wenn immer mehr Völker verarmen und sich verschulden. Wer am Ende nichts mehr zu verlieren hat, handelt in der Regel unberechenbar. Genauso gefährlich ist es aber, wenn einzelne Staaten immer reicher und mächtiger werden können und dies auf Kosten der Ärmeren und Schwächeren geschieht – was leider bereits der Fall ist.

Deshalb hat uns Immanuel Kant in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ ein Vermächtnis hinterlassen, dass wir nun wirklich endlich ernst nehmen sollten. Die Entscheidung zwischen ewiger Krieg und ewiger Frieden liegt bei uns. Erstreben wir die Bildung des von Kant vorgeschlagenen Völkerstaats mit allen unseren Kräften, denn er ist die einzige Chance den vielen tödlichen Bedrohung durch zukünftige Kriege, Klimaschäden, Ressourcenvernichtung, Verarmungen und Ausbeutungen wirksam und ausdauernd zu begegnen. 

Kaliningrad ist der Ort, an dem Kant gewirkt hat. Diese Universität hat man nach seinem Namen benannt. Vielleicht werden sie einmal die ganze Stadt nach ihm benennen und damit viele Besucher aus aller Welt anlocken. Auf jeden Fall ist Kants Königsberg, das durch den hoffentlich letzten Weltkrieg total zerstört wurde, der geeignete Ort, um Kants Appell und sein Vermächtnis an die ganze Menschheit laut zu verkünden. Es müsste möglichst bald geschehen und nicht erst, wenn es wieder zu spät ist.

Ich danke Ihnen für Ihre Zuhören!

Michael Wieck

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