Geschichte

Bohnenrede 2018

Nelly Smirnjagina,
verdiente Künstlerin von Rußland
Kaliningrad, den 22. April 2018

– Es gilt das gesprochene Wort –

GEDANKENENERGIE

Eines Tages trat Immanuel Kant aus seinem Haus, das auf der Insel Kneiphof stand, und sah auf der Köttelbrücke einen Studenten der Albertina-Universität, der sehr in Eile war.

– Junger Mann, wohin eilt er denn so? Soll er doch seinen Kopf erheben und seinen Blick gen Himmel richten.

– Ach, Herr Professor, dafür habe ich jetzt keine Zeit.

– Dann soll er mir glauben, dass in fünfzig oder siebzig Jahren all das, was er jetzt hier sieht, verschwunden sein wird. Nichts davon wird bleiben, nicht der Markt und auch nicht der Schlachthof, kein Segelschiff wird hier ankern, kein einziges Haus von denen, die heute auf der Insel stehen, auch die Albertina wird nicht mehr da sein. Es wird hier alles anders.

– Und was wird mit den Menschen?

– Es werden andere Menschen sein. Ich werde nicht mehr da sein, und er auch nicht… Und wenn dreihundert Jahre vergehen…

Nachdenklich blickte Kant in den bestirnten Himmel hinauf.

– Also WAS ist es denn so wichtiges, was ihn davon abhält, für einen Augenblick in den Himmel zu schauen? Weiß er denn, dass dieser Blick gen Himmel im Vorbeigehen inmitten eigener Gedanken eine Offenbarung ist, und wenn man selbst zum Himmel wird, bedeutet es die Erleuchtung?

So sprach der Königsberger Weise, dessen Name Immanuel war und im althebräischen „Gott mit uns“ bedeutete. Die ersten zwanzig Jahre seines Lebens hieß Kant mit Vornamen Emanuel. So haben ihn seine Eltern genannt. Doch nach etwa zwanzig Jahren hat er seinen Namen geändert. Immanuel – Gott ist mit uns, also ist auch die Wahrheit mit uns, ist Licht mit uns. Ein gigantischer Sinn ist im Vornamen Kants enthalten.

Immanuel Kant war erleuchtet, er war der Himmel, und seine Gedanken waren groß und mächtig, und sie waren schöpferisch. Gern erinnerte er sich an den großen Denker Pythagoras und bedeutete seinen Schülern: „Sie können eine neue Sonne anzünden, oder eine neue Finsternis schaffen, so ist das Gesetz der Zusammenwirkung von Gedanken und Raum“.

Die Gedanken Kants schweben im Informationsfeld, in der Schatzkammer der Weisheit, denn unter vielen Energien ist die Gedankenenergie die größte, die auch außerhalb der Grenzen der Erde wirksam wird.

Die Gedanken sind wie Vögel, sie bewegen sich frei und aus eigener Kraft. Zuweilen flattern sie von den Menschen um uns herum in unsere Himmel ein, ungeachtet der Zeit und des Raumes, und manchmal werden unsere eigenen Gedanken Teil ihrer Himmel. 

So flog in meinen Himmel völlig unerwartet ein Gedanke, als ich am Königsberger Dom vorbeiging. Ein Flashmob Kant – sagte ich zu mir und wunderte mich selbst darüber. In meiner Werkstatt angekommen, machte ich das Buch auf, das auf dem Tisch lag. Ein Zitat von Immanuel Kant: „Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.“. Ende des Zitats.

So hat das alles angefangen. Ich las „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ und andere Werke über die Erziehung des Verstandes, die noch zu Lebzeiten des Philosophen großen Erfolg hatten. Ich notierte mir seine Sinnsprüche und begriff, dass Kant selbst mir den Hinweis gab, den Menschen, der „aus so krummem Holze“ ist, könnte man durch Wort und Zeichnung an die Wahrheit heranführen.

Die Gedanken des Königsberger Weisen, seine Lebensweisheiten im Bild darzustellen ist keine leichte Aufgabe, doch diese Arbeit hat mir große Freude bereitet.

Hier und heute, in der Ausstellung begegneten sich Immanuel Kant, meine Zeitgenossen und unsere Stadt, in der der große Philosoph geboren wurde und die er niemals für eine Provinz gehalten hatte. Und weil sich meine Kindheit in den Königsberger Ruinen abgespielt hat, konnte ich nicht umhin, die Schönheit dieser Stadt, ihre Rätselhaftigkeit, ihre Mystik, den Geist dieser Ruinen und den terrakottafarbenen Staub dieser altehrwürdigen Stadt festzuhalten, die in allen ihren Erscheinungen schön ist. So entstanden die Reihen meiner Arbeiten „Die Stadt meiner Kindheit“ und “Königsberg – Kaliningrad“, die in das Projekt „Die Stadt, Kant und mein Zeitgenosse“ eingeflossen sind.

In jener Ausstellung wurden 200 Werke sowie Fotos, Reproduktionen, Postkarten und Bücher gezeigt. Ungeduldig und aufgeregt fieberte ich dem Eröffnungstag entgegen. Am 22. April 2017, das ist der Geburtstag Immanuel Kants, war es soweit, die Vernissage im Königsberger Dom wurde eröffnet. Der erste Tag und alle darauffolgenden Tage der Ausstellung haben meine Erwartungen weit übertroffen. Drei Gästebücher voll, 200 000 Besucher – sie alle wurden Teil dieses Projektes „Flashmob Kant“. Es war ein blitzartiger Massenandrang. Besucher aus verschiedenen Städten Russlands und aus dem nahen Ausland, aus Europa, Asien, Amerika und sogar aus Australien haben ihre begeisterten Einträge in den Gästebüchern hinterlassen.

So schrieb Professorin Olga Demidowa aus der Sankt-Petersburger Alexander-StieglitzAkademie der Künste, ich zitiere: „Es ist eine wunderschöne Ausstellung, sie sollte zur Dauerausstellung im Kant-Museum werden. Hier werden Geschichte und Gegenwart dieser Stadt zusammengebracht“. Ende des Zitats.

Und ein anderer Besucher namens Andrej, ein junger Philosoph aus Moskau, schrieb, ich zitiere wieder: „Die zauberhaften Künstlerwerke, welche ich im Kant-Museum in der Ausstellung sah, haben die Saiten meiner Seele berührt, sie spielten darauf eine wundervolle Musik, gewebt aus den geistvollen Gestalten der vieldimensionalen Realität, sie gingen über die Grenzen des Verstandes und der Vernunft hinaus in den Bereich der übersinnlichen Wahrnehmung – näher an Gott“. Ende des Zitats.

Das „Flashmob Kant“ sei eine sehr zeitgemäße Lesart des großen Philosophen und man möchte gern so ein Buch besitzen, schrieb Anna aus Belgien.

Einmal kam ein Anruf aus dem Dom mit der Bitte, ein Treffen mit den Besuchern zu machen, weil sie oft das Museumspersonal gefragt hatten, ob man nicht den Urheber treffen könne.

Und so betrat ich an einem Tag im Sommer den Saal und sah eine große Menschenmenge, die sich voll Interesse die Bilder anschaute.

– Guten Tag, ich bin Nelly Smirnjagina…

– Ach, Sie sind die Nelly? Und das alles sind Ihre Werke? Darf ich ein Selfie mit Ihnen machen? Erzählen Sie, was Kant für ein Mansch war! Wer waren die Pietisten? War Kant Deutscher oder Jude? Stimmt es, dass die Gebeine Kants gar nicht mehr in seinem Grab liegen? Welches Bild haben Sie dem Papst Johannes Paul II geschenkt? Die Fragen überschwemmten mich… Ein Mann fragte:

– Warum war Immanuel Kant niemals verheiratet? Vielleicht hat er sich das viel zu lange überlegt? Denn er liebte ja zu denken…

– Hm, wissen Sie, – sagte ich, – Sie sind wohl der Wahrheit sehr nahe. Denn so ist es damals geschehen:

Ein Mädchen machte Immanuel Kant einen Heiratsantrag – sie wollte ihn heiraten! Darauf sagte Kant, er wolle es sich überlegen. Und er dachte und dachte und dachte nach. Er sammelte verschiedene Meinungen dazu, denn es gibt Leute, die an die Liebe glauben, und Leute, die der Liebe kein Vertrauen schenken; es gibt welche, die für eine Ehe sind, und welche, die sich dagegen aussprechen. Endlich hatte er alle Beweise sowohl dafür als auch dagegen beisammen. Es sollen Hunderte gewesen sein. Nun war er festgefahren. Was sollte er tun? Wie sollte er sich entscheiden? Welche Auswahl treffen?

Er dachte nach und wog alle Für und Wider ab. Doch endlich hatte sich Kant entschieden, denn er fand ein letztes Argument FÜR die Eheschließung. Das war folgendes: wenn man keine Wahl treffen kann, soll man sich für das entscheiden, was einem die größere Erfahrung einbringt.

Heiraten oder nicht heiraten? Die Argumente für und wider die Eheschließung hatten gleiches Gewicht. Aber das Leben eines Junggesellen kannte er schon. Folglich sollte er heiraten, weil das für ihn eine neue Erfahrung bedeutete. Wenn gleichermaßen Beweise auf beiden Seiten stehen, kann man sich nicht anders entscheiden. Er ging zu dem Haus, wo das Mädchen wohnte, und klopfte an der Tür.

Ihr Vater öffnete ihm. Immanuel Kant sagte:

Ich habe mich entschieden. Wo ist Ihre Tochter?

Zu spät, – antwortete der Vater, – sie ist schon verheiratet und hat drei Kinder. Denn seit dem Heiratsantrag waren zwanzig Jahre vergangen…

– Ach, ist das wahr? – fragte mich der Mann, – allerdings, klar: Kant war ein großer Denker und Logiker, – fügte er hinzu.

Und die Frau, welche in der Nähe stand, sagte bedeutungsvoll: «Um eine vernünftige Wahl zu treffen, muss man erst wissen, worauf man verzichten kann – auch das ist ein Spruch von Kant!» Nach einiger Überlegung fügte sie hinzu: «Die weisen Menschen hassen die Begierde und bemühen sich, ihr geistiges Leben zu entwickeln. Begierde trübt das Herz eines Mannes, wenn er von der weiblichen Schönheit verwirrt und sein Verstand vernebelt wird. Kant zog es vor, unangetastet zu leben. So konnte er seinen Verstand und seine Gedanken unter Kontrolle halten». 

Das Publikum klatschte begeistert.

So viele interessante und unvergessliche Begegnungen gab es bei jener Ausstellung.

Einmal kam eine seriöse Dame in Begleitung eines Teenagers. Während die Mutter aufmerksam die Lebensweisheiten von Kant studierte, die Zeichnungen und Aquarelle betrachtete, nahm ihr Sohn auf einem Stuhl Platz, ohne sich von seinem Smartphone abzuwenden. Die Frau sagte ihm streng: „Mischa, nun lerne was von Kant, und nicht von Deinem Handy. Lies einfach und sieh!“ Nach dem Besuch schrieb Mischa ins Gästebuch: „Ich danke für die Ausstellung, sie macht Kant zugänglich für jedermann“.

Immanuel Kant sagte: – Wenn es Wissenschaft gibt, die der Mensch wirklich braucht, so ist es eben jene Wissenschaft, die ich lehre – denn sie handelt davon, wie der Mensch auf eine geziemende Weise den für ihn bestimmten Platz in dieser Welt einnimmt – und daraus kann man lernen, wie man sein muss, um des Namens Mensch würdig zu sein.

Bis heute erhalte ich aus verschiedenen Ländern der Welt Briefe voll Dankbarkeit und Anerkennung für die Ausstellung. Und wenn die Menschen mit den Grundsätzen der Sittlichkeit, welche der große Philosoph bekannte, in Berührung kamen und daraus Kraft geschöpft haben, so bin ich unendlich froh darüber, dass ich die Wahrheiten des Königsberger Weisen weiterleiten konnte.

Nelly Smirnjagina

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