Geschichte, Persönlichkeiten

Den Glauben an den Menschen bewahren: Zur Erinnerung an den Autor des Buchs Zeugnis vom Untergang Königsbergs Michael Wieck

Am ersten Tag des Frühlings erfuhr Kaliningrad vom Tod eines wichtigen Mannes in seiner Geschichte – des Schriftstellers und Musikers Michael Wieck. Er wurde 1928 in Königsberg geboren, überlebte die Nazis, die britischen Bombenangriffe und das sowjetische Internierungslager und schrieb dann, bereits ein berühmter Musiker, ein Buch darüber, Zeugnis vom Untergang KönigsbergsEin ‚Geltungsjude‘ berichtet. “Nowy Kaliningrad” erzählt von dem Mann, der Königsberg und Kaliningrad für immer verbindet, und von dem Buch seiner Erinnerungen, in dem trotz allem viel mehr Liebe steckt als die Schrecken des Krieges

„Herrenlose Hunde sind menschenscheue Wildlin­ge geworden, die um jeden einen weiten Bogen schlagen, denn die Katzen sind alle schon in die Kochtöpfe gekommen, und irgendwie müssen sie unsere Absichten wittern. Einmal aber überfährt ein rasant fahrender Jeep einen mittelgroßen Hund. Ich gewinne den Wettlauf nach dem verendenden Tier und bringe es nach Hause. Jetzt kommt mir endlich zugute, dass ich zugeschaut habe, wie mein. Kanin­chen gehäutet und ausgenommen wurde. Genauso machte ich es mit dem Hund, der allen köstlich schmeckte und gut bekommen ist“ – das sind Zeilen aus dem Buch von Michael Wieck, der als einer der letzten Menschen Königsberg gesehen hat und dessen Untergang mit schonungsloser Ehrlichkeit beschreibt. Zeuge, wie die Mauern in der Stadt Immanuel Kants und E.T.A. Hoffmanns mit Inschriften “Jude, stirb!” beschmiert und Juden unter Androhung des Todes gezwungen wurden, gelbe Sterne – “Zeichen der Schande” – zu tragen.

Zweimal entkam Wieck dem Tod: erst überlebte er im zu Nazi-Deutschland gehörenden Königsberg, dann im selben Königsberg, das von sowjetischen Truppen erobert wurde. Für die Deutschen war er ein jüdischer Jugendlicher, für die Rote Armee war er ein deutscher Jugendlicher. Schon nach Kriegsende in den Kellern des sowjetischen Infiltrationslagers “Rothenstein” träumte er von frischer Luft als dem höchsten Glück, und damals schwor er sich, dankbar und anspruchslos zu sein, wenn er überleben würde. Überraschenderweise urteilt er in seinem Buch weder über die Deutschen noch über die sowjetischen Soldaten, noch beschuldigt, verachtet oder beklagt er jemanden. Selbst in den grausamsten Momenten schafft er es, seinen Glauben an den Menschen zu bewahren.

“Ich habe klar verstanden: Jeder von uns hat die Wahl, zu lieben oder zu hassen. Ja, ich sah schreckliche Grausamkeit, aber ich sah auch Barmherzigkeit. Als die Juden aus Königsberg deportiert wurden, ließ mich ein deutscher Soldat, ein Wachmann, gehen. Als ich 1945, halb tot, menschliche Überreste aus den Kratern entfernte, ließ mich ein russischer Soldat nicht verhungern. Deshalb habe ich das Buch geschrieben, um den Menschen meine Erfahrung zu vermitteln, das Leben in all seinem Schrecken und in all seiner Schönheit zu erkennen”, erklärte Michael Wieck in einem Gespräch mit “Strana Kaliningrad”.

Er wurde 1948 in einem Güterwaggon aus seiner Heimatstadt deportiert. Erst in den frühen 1990er Jahren konnte er zurückkehren. Viktor Shapiro, Vorsitzender der örtlichen jüdischen Gemeinde Adat Israel, erinnert sich an einen Spaziergang mit Wieck durch Kaliningrad. “Er zeigte die Orte, an denen er lebte, ging in seine ehemalige Wohnung. Dort wohnte eine Frau, er unterhielt sich sehr herzlich mit ihr, überreichte ihr ein Geschenk, sie gab ihm eine Tüte mit Äpfeln. Es war so eine warmherzige Szene”, – sagt Shapiro. Zu diesem Zeitpunkt waren die Memoiren von Michael Wieck bereits in Deutschland erschienen. Kaliningrader Lokalhistoriker und Übersetzer träumten davon, den Text auch in Russland zu veröffentlichen. Die Arbeit an der Übersetzung wurde von dem Philologen Yury Volkov begonnen. Später beteiligte sich auch das Deutsche Forum für Osteuropäische Kultur an der Edition. Nach Angaben ihres Vertreters Klaus Harer übernahm die Organisation die Kosten und sorgte für die wissenschaftliche Bearbeitung. Das Buch Zeugnis vom Untergang Königsbergs wurde 2004 im St. Petersburger Verlag “Hyperion” in einer Auflage von 2.000 Exemplaren gedruckt.

“Als das Buch herauskam, wollten wir eine Präsentation in Kaliningrad abhalten. Wir organisierten ein Konzert von Michael Wieck in der Philharmonie (Wieck war viele Jahre Erster Geiger im Radio-Symphonie-Orchester Stuttgart – Anm. “Novy Kaliningrad”). Natürlich habe ich ein paar Bücher mitgenommen. Wir dachten, er würde dort als Musiker auftreten und gleichzeitig Leser treffen, aber am Vorabend des Konzerts schaffte es der damalige Gouverneur der Region [Vladimir Yegorov], das Buch zu lesen und empfahl es. Dann kam die Universität zur Vernunft, und eine formelle Präsentation mit Professoren und vielen Offiziellen wurde sehr schnell organisiert. Das war wirklich eine Galaveranstaltung”, erinnert sich Klaus Harer.

Michael Wieck besuchte Kaliningrad danach noch mehrmals: am Jahrestag der „Kristallnacht“, bei einem der “Todesmärsche” in Yantarny und bei der Enthüllung einer Gedenktafel am Nordbahnhof, die an die Deportation der Königsberger Juden durch die SS erinnert. Er unterrichtete zusammen mit seiner Frau Miriam an einer Sommerschule für junge Musiker in Svetlogorsk und sprach auf einer Konferenz der Gesellschaft „Freunde Kants und Königsbergs“. “Der Geist von Königsberg, sagte er gern, war Immanuel Kant. In seinem Buch beschreibt er, wie seine Mutter ihn erzogen hat, wie man leben soll, welche moralischen Grundsätze es gibt, und das war alles in der Philosophie Kants”, sagt Gerfried Horst, Vorsitzender der Gesellschaft „Freunde Kants und Königsbergs“. „Er war ein sehr lebendiger Mensch, er war jeden Tag glücklich. Einmal waren wir mit ihm und seiner Frau im April auf der Kurischen Nehrung. Es war noch kalt und er ging baden, so sehr liebte er die Ostsee. Ich dachte immer: Wie kann er so glücklich und fröhlich sein, nach dem, was er durchgemacht hat? Er war unglaublich gesund im Geiste.“

2015 wurde das Buch Zeugnis vom Untergang Königsbergs von Maxim Popov, Leiter des Kaliningrader Designbüros Pictorica, mit finanzieller Unterstützung des Museums Altes Haus neu aufgelegt – sie wollten dem Buch neues Leben einhauchen. Sie überarbeiteten die Übersetzung, fügten Schwarz-Weiß-Fotos hinzu und hüllten den Text in ein neues Cover. Bei der Präsentation im „Sackheimer Tor“ war kaum Platz für alle.

“Um ehrlich zu sein, haben wir nicht erwartet, dass so viele Leute kommen würden. Es war schon eine andere Zeit, ein anderes politisches Klima. Nach der ersten Auflage des Buches war man irgendwie eher bereit, sich an die Geschichte und ihre wunden Punkte zu erinnern, die Michael Wieck nicht übergangen hatte. Als das Buch 2015 neu aufgelegt wurde, war die Stimmung etwas angespannt, aber er hat sich sehr gefreut, dass so viele junge Leute, kluge Köpfe und sympathische Gesichter unter den Zuhörern waren”, sagt Klaus Harer, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Deutschen Forums für Osteuropäische Kultur.

Am Tag nach der Präsentation fuhr er zusammen mit Michael Wieck an die Küste. “Ich erinnere mich, es war schon gefühlter Winteranfang, wir fuhren auf die Kurische Nehrung, machten einen sehr angenehmen Spaziergang, probierten einen russischen Imbiss – Hering mit Wodka – in Cranz. Einfach hinreißend: strahlende Sonne, Kälte, Blick auf die Ostsee und Hering – genial!” – erinnert sich Harer.

Das war der letzte Besuch von Michael Wieck in Kaliningrad. Bald darauf forderte eine russische Gemeinschaft, die Zeugnisse eines Königsberger Juden, eines Überlebenden des Holocaust und der sowjetischen Lager, als extremistische Literatur einzustufen. Eine offizielle Einladung zur Einweihung der wiedererrichteten Synagoge erhielt Wieck nie. Eine sehr seltsame Geschichte ereignete sich mit dem Stück Kantgrad, das „Theatre.doc“ im Jahre 2019 nach Kaliningrad brachte. Die Aufführung der pazifistischen Geschichte über das Zusammenleben von Deutschen und Russen in Königsberg nach dem Krieg wurde von dem Museum „Friedländer Tor“ in seinen Räumen abgelehnt, weil das Stück angeblich Texte von Michael Wieck verwendete. In dem Stück kommt jedoch keine einzige Zeile aus Zeugnis vom Untergang Königsberg vor. In dem Buch selbst wurde nie etwas Verbotenes gefunden – glücklicherweise wird es weiterhin in verschiedenen Buchläden der Stadt verkauft. Und das ist sehr wichtig für die Menschen, die heute in Kaliningrad leben, dieses Gebiet als ihre Heimat betrachten, es ohne Vorbehalte akzeptieren und sich nicht vor der Geschichte verstecken.

„Warum können so viele nicht begreifen, dass Kriegs- und Rachehandlungen immer nur Eskalation oder Chaos bringen, dass sie keine Probleme lösen oder Versöhnung herbeiführen“, fragte sich Michael Wieck in Briefen an seine Freunde. „Aber das, was ich von anderen verlange, muss ich zuerst selber zu tun bereit sein. Ich denke an das Abgeben, Teilen, an das Aufeinanderzugehen, das Vergeben, wenn ehrli­che Einsicht und Bedauern vorhanden sind. Ich bin nämlich zutiefst davon überzeugt, kein besserer Mensch zu sein als andere – und will ich Gutes bewirken, muss ich schwer an mir arbeiten.“ Letztendlich, wie Michael Wieck sagte, liegt die Wahl, zu lieben oder zu hassen, bei jedem von uns.  

Text: Alina Belyanina. Foto: Vitaly Nevar / Novy Kaliningrad

Quelle: Новый Калининград, Алина Белянина “Сохранить веру в человека: памяти автора «Заката Кёнигсберга» Михаэля Вика”, от 2 марта 2021 г.

URL: https://www.newkaliningrad.ru/afisha/other/publications/23913960-sokhranit-veru-v-cheloveka-pamyati-avtora-zakata-kyenigsberga-mikhaelya-vika.html

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