Geschichte

Einführungsvortrag: „Kant und Königsberg“

Immanuel Kant starb am 4. Februar 1804.

Königsberg wurde durch zwei britische Bombenangriffe Ende August 1944 und bei der Eroberung der Stadt durch die Rote Armee im April 1945 zerstört.

Masuren mit seinen vielen Seen ist landschaftlich schöner als der nördliche Teil Ostpreußens. Die Polen haben die ostpreußischen Burgen, Kirchen und Städte meist gut wiederaufgebaut, während man in Nordostpreußen, in der Kaliningradskaja Oblast, viele Ruinen von Kirchen und Burgen sieht.

Warum fahren wir trotzdem jedes Jahr nach Königsberg/Kaliningrad? Die Antwort lautet: Weil Kant hier gelebt hat und begraben ist und wir seinen Geburtstag in seiner Heimatstadt feiern wollen.

Kants Werke haben ihre Bedeutung nie verloren. Jede Generation beschäftigt sich neu mit ihnen. Um seine Werke zu verstehen, muss man sich auch dem Menschen nähern, aus dessen Feder sie stammen – und zwar nähern im wortwörtlichen Sinne. Als Freunde Kants und Königsbergs wollen wir den Boden betreten, auf dem Immanuel Kant sein Lebenswerk geschaffen hat. Kant schrieb über seine Heimatstadt:

Eine große Stadt, der Mittelpunkt eines Reichs, in welchem sich die Landescollegia der Regierung desselben befinden, die eine Universität (zur Cultur der Wissenschaften) und dabei noch die Lage zum Seehandel hat, welche durch Flüsse aus dem Inneren des Landes sowohl, als auch mit angränzenden entlegenen Ländern von verschiedenen Sprachen und Sitten einen Verkehr begünstigt, — eine solche Stadt, wie etwa Königsberg am Pregelflusse, kann schon für einen schicklichen Platz zu Erweiterung sowohl der Menschenkenntniß als auch der Weltkenntniß genommen werden, wo diese, auch ohne zu reisen, erworben werden kann.
(Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Vorrede)

Man kann Kant nur verstehen, wenn man das gesellschaftliche Umfeld und die Geschichte der Stadt kennt, die ihn hervorgebracht hat. Die Stadt, wie Kant sie beschrieben hat, gibt es in ihren Grundzügen heute noch! Sie war und ist die Hauptstadt einer Provinz bzw. Region (heute der Kaliningradskaja Oblast), sie hat eine Universität (die seit 2005 Kant-Universität heißt), sie hat einen berühmten, das Stadtbild prägenden Dom, sie hat die Lage zum Seehandel und ist durch Flüsse mit angrenzenden Ländern verschiedener Sprachen und Sitten verbunden. Ihre heutigen Bewohner wissen, dass sie in der Stadt Kants leben, dem ehemaligen Königsberg, und viele von ihnen sind stolz darauf. 

Auch wenn man das alte Königsberg kaum noch sehen kann, ist doch der Geist des Orts, der „Spiritus loci“, immer noch vorhanden. Der Wunsch, den Geist des Ortes sichtbar zu machen, ist vielleicht die Erklärung dafür, dass es an jedem Kaliningrader Kiosk Ansichtskarten mit Bildern des alten Königsbergs zu kaufen gibt. 

Menschen pilgern an Orte, an denen große Religionsstifter gelebt haben oder gestorben sind. Sie fahren nach Bethlehem, Nazareth und Jerusalem oder gehen auf Wallfahrt nach Mekka und Medina. Ein anderes Beispiel ist Bodhgaya in Nordindien, ein Wallfahrtsort für alle Buddhisten. Bodhgayā heißt wörtlich: „Ort der Erleuchtung“, denn dort hat Buddha die Erleuchtung erlangt. 

Der Kant-Forscher Emil Arnoldt sagte in seiner „Bohnenrede“ am 22. April 1873 in der Gesellschaft der Freunde Kants in Königsberg:

Aber wie der Boden von Attika durch Sokrates geweiht ist für alle Zeiten, so wird auch unser Königsberg durch Kant eine Stätte bleiben, welche die Geschlechter der Menschen mahnt: Hier ist heiliges Land! 

Ob die Formulierung „heiliges Land“ in Kants Sinne wäre, mag dahinstehen, denn Kant war kein Religionsstifter; nach ihm ist der Mensch ein sich durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze selbst bindendes freies Wesen. Fest steht: Kant war in seinem ganzen Wesen ein Sohn seiner Heimatstadt und hat ihr wiederum für immer seinen eigenen Stempel aufgedrückt. 

Wer das ehemalige Königsberg, die Heimatstadt Kants, besucht, sieht dort nicht nur die Stadt und das sie umgebende Land, sondern auch den Himmel darüber. Kopernikus und Kant betrachteten beide den Himmel über Ostpreußen. Kopernikus fand heraus, dass nicht die Sonne sich um die Erde dreht, wie es den Anschein hat und wie man bisher angenommen hatte, sondern die Erde sich um die Sonne bewegt. Kant bezog sich zweihundert Jahre später ausdrücklich auf die Erkenntnisse seines Landsmanns und wandte dessen Methode, die übliche Anschauungsweise umzukehren, auch auf die Metaphysik an: 

Es ist hiemit eben so, als mit den ersten Gedanken des Copernicus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließ. In der Metaphysik kann man nun, was die Anschauung der Gegenstände betrifft, es auf ähnliche Weise versuchen. Wenn die Anschauung sich nach der Beschaffenheit der Gegenstände richten müßte, so sehe ich nicht ein, wie man a priori von ihr etwas wissen könne; richtet sich aber der Gegenstand (als Object der Sinne) nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens, so kann ich mir diese Möglichkeit ganz wohl vorstellen.
(Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur 2. Auflage)

Welche Wirkung die Betrachtung des ostpreußischen Himmels auf Kant ausübte, drückte er folgendermaßen aus:   

Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.
(Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Beschluss) 

Wir, die Freunde Kants und Königsbergs, sehnen uns nicht zurück in die Vergangenheit. Wir blicken nach vorn, aber wir wissen dabei, dass die Geschichte zu uns gehört. Die Geschichte Königsbergs ist ein wesentlicher Bestandteil der deutschen und europäischen Geschichte. Der britische Kulturhistoriker Neil MacGregor hat in seinem Buch „Germany – Memories of a Nation“ („Deutschland – Erinnerungen einer Nation“) geschrieben, Königsberg sei „… no longer in any sense German but in every sense still part of German cultural and intellectual consciousness“ („… in keiner Hinsicht mehr deutsch …“, „aber in jeder Hinsicht weiterhin Teil des deutschen kulturellen und intellektuellen Bewusstseins“).

Der Staat, den die Deutschordensritter im 13. Jahrhundert errichteten, unterschied sich von allen anderen europäischen Staaten und war im Mittelalter eine völlig neue Erscheinung. 1525 machte Herzog Albrecht, der letzte Hochmeister des Deutschen Ordens, auf Anraten Martin Luthers aus Ostpreußen in einer Art von Staatsstreich das erste protestantische Land Europas. Am 18. Januar 1701 krönte sich Friedrich III., Kurfürst von Brandenburg, in Königsberg als Friedrich I. selbst zum „König in Preußen“ (nicht zum „König von Preußen“, da es noch das zu Polen gehörende „Preußen Königlichen Anteils“ gab, das erst unter Friedrich dem Großen Preußen zugeschlagen wurde). Das neue Königreich trat friedlich in den Kreis der europäischen Staaten ein. Dieses Preußen mit seiner Krönungsstadt Königsberg hat Immanuel Kant hervorgebracht, und er, der Untertan und Zeitgenosse Friedrichs des Großen, prägte Preußen. Nach der vernichtenden Niederlage der Preußischen Armee im Krieg gegen Napoleon 1806 arbeiteten Schüler Kants in Königsberg 1807-1808 die preußischen Reformen aus, die Städteordnung, die Bauernbefreiung, die Judenemanzipation. Die geistige Erneuerung von Staat und Gesellschaft im Sinne Kants gab Preußen die Kraft, gemeinsam mit Russland die Freiheitskriege gegen Napoleon zu führen, die 1813 von Königsberg ausgingen.

Der Theologe, Philosoph und Politiker Julius Rupp, der Großvater der Künstlerin Käthe Kollwitz, wandte sich dagegen, für immer neue Kriege zu rüsten. Er gründete 1850 in Königsberg die erste deutsche Friedensgesellschaft. Sein Vorschlag war, nach einem Krieg nicht Siegesfeiern zu veranstalten, sondern Friedensfeste. Er versuchte, die christlichen Konfessionen im Geiste des Urchristentums zusammenzuführen und dadurch eine Vernunftreligion im Sinne Kants zu begründen.

Die Königsbergerin Käthe Kollwitz, die Enkelin von Julius Rupp, war die bekannteste deutsche Bildhauerin in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und kämpfte mit ihrer Kunst für die Armen und gegen den Krieg. Sie starb am 22. April 1945, am Geburtstag ihres Landsmanns Immanuel Kant. Eine andere Königsbergerin, Hannah Arendt, nahm die Lehren Kants mit nach Amerika und arbeitete sie zu einer politischen Philosophie der Freiheit aus.

Was aus Königsberg kam und Bedeutung für Deutschland hatte, war immer auch von Bedeutung für Europa und die ganze Welt. Jürgen Manthey hat sein Buch über die Geschichte Königsbergs zu Recht betitelt: „Königsberg – Geschichte einer Weltbürgerrepublik“. 

Die Stadt Königsberg/Kaliningrad, heute eine russische Exklave in der Europäischen Union, besitzt eine Schlüsselstellung für den Weltfrieden. Man kann sie als eine Verkörperung von Kants Schrift betrachten: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. Kant hat darin dargelegt, dass die Menschen die Möglichkeit haben, einen Friedensbund zwischen den Staaten anzustreben, der „alle Kriege auf immer zu endigen suchte.“  Wenn sie das nicht tun, sagt Kant in diesem Traktat, dass es

Menschen, die so gesinnt sind, ganz recht geschieht, wenn sie sich unter einander aufreiben und also den ewigen Frieden in dem weiten Grabe finden, das alle Gräuel der Gewalttätigkeit samt ihren Urhebern bedeckt. 

Nach Kants Ansicht ist der ewige Friede ein Ziel, dem sich die Menschen im Laufe der menschlichen Geschichte immer weiter annähern, selbst wenn sie das nicht wollen. Er glaubt an 

die große Künstlerin Natur …, aus deren mechanischem Laufe sichtbarlich Zweckmäßigkeit hervorleuchtet, durch die Zwietracht der Menschen Eintracht selbst wider ihren Willen emporkommen zu lassen, …

Der Untergang Königsbergs am Ende des Zweiten Weltkriegs war ein schreckliches Beispiel für die Zwietracht der Menschen. Aber wie Kant es vorhergesagt hat, ist zwischen ehemaligen Feinden Eintracht entstanden. In Königsberg/Kaliningrad finden Deutsche und Russen zueinander.

Ein wichtiges Datum für Deutsche und Russen und alle Menschen guten Willens in der Welt ist der 300. Geburtstag Kants am 22. April 2024. Die Stadt, in der er das Licht der Welt erblickte, wird 300 Jahre später in Erinnerung an ihn der Schauplatz eines Weltfriedensfestes sein. 

Wenn wir an das Schicksal Königsbergs denken, sollten wir das im Lichte der Lehren Kants tun, der schrieb:   

Der denkende Mensch fühlt einen Kummer, der wohl gar
Sittenverderbnis werden kann, von welchem der
Gedankenlose nichts weiß: nämlich Unzufriedenheit mit der
Vorsehung, die den Weltlauf im Ganzen regiert, wenn er die
Übel überschlägt, die das menschliche Geschlecht so sehr
und (wie es scheint) ohne Hoffnung eines Bessern drücken.
Es ist aber von der größten Wichtigkeit: mit der Vorsehung
zufrieden zu sein (ob sie uns gleich auf unserer Erdenwelt
eine so mühsame Bahn vorgezeichnet hat): teils um unter
den Mühseligkeiten immer noch Mut zu fassen, teils um,
indem wir die Schuld davon aufs Schicksal schieben, nicht
unsere eigene, die vielleicht die einzige Ursache aller dieser
Übel sein mag, darüber aus dem Auge zu setzen und in der
Selbstbesserung die Hülfe dagegen zu versäumen.

(Immanuel Kant: Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte)

Nach Kants Ansicht wäre es nicht richtig, die Schuld an den Katastrophen der Geschichte und dem Zustand der Welt auf das Schicksal zu schieben. Auch hier wendet er seine Methode an, die übliche Anschauungsweise umzukehren. Richtig ist es demnach, bei allem, was in der Welt geschieht, nach unserer eigenen Verantwortung zu fragen und daran zu arbeiten, uns selbst zu besseren Menschen zu machen. Als Freunde Kants und Königsbergs versuchen wir, diesem Anspruch gerecht zu werden.

© 22. April 2018 Gerfried Horst

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