Philosophie

Die Philosophie Kants in Russland nach 1945

In meinem kleinen Vortrag werde ich mich bemühen, Ihnen eine annähernde Skizze davon zu geben, wie die Philosophie Kants nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der UdSSR und später in Russland aufgenommen und bewertet wurde und sich verbreitete. Besondere Aufmerksamkeit werde ich der Frage widmen, in welcher Weise auf diesen Prozess die historischen Veränderungen eingewirkt haben, aufgrund derer die Heimatstadt Kants – Königsberg – zu der russischen Stadt Kaliningrad wurde. Ich werde vier Aspekte der Rezeption der Philosophie Kants genauer betrachten: 1) die Veröffentlichung der Werke Kants, 2) besondere Kantforschungen, 3) wissenschaftliche Maßnahmen, Zeitschriften und akademische Institutionen und schließlich 4) die weitere kulturelle und gesellschaftliche Wahrnehmung.

Veröffentlichung der Werke Kants. Obwohl man noch zu Lebzeiten Kants, und zwar im Jahre 1803, begann, seine Werke ins Russische zu übersetzen, und seine Hauptwerke noch vor der Revolution 1917 in mehreren unterschiedlichen Übersetzungen herauskamen, gab es ziemlich lange keine Ausgabe der gesammelten Werke Kants in russischer Sprache. Dieser Umstand fiel besonders in den 30-er Jahren des XX. Jahrhunderts auf, als ab 1929 mehrbändige „Schriften“ von Hegel, Marx und Engels vom Marx und Engels – Institut herausgegeben wurden. Kurz vor dem Großen Vaterländischen Krieg, nachdem bereits zehn Bände mit den Werken Hegels veröffentlicht worden waren, erschien der zweite Band des zweibändigen Sammelbandes der aus der vorkritischen Zeit stammenden Werke Kants; Der erste Band dieser Ausgabe war jedoch niemals erschienen. Auf seiner Grundlage entstanden zwei erste Bände der gesammelten Werke Kants, welche erst in den 60-er Jahren des 20. Jahrhunderts in der Reihe „Philosophisches Erbe“ veröffentlicht wurden. Die Erscheinung dieser sechsbändigen Ausgabe, die in der Tat aus sieben Büchern bestand, wurde zu einem herausragenden Ereignis; und das ungeachtet der Tatsache, dass die Auflage keineswegs ausreichend war (17000 Exemplare) und ausschließlich über Bibliotheken oder im Abonnement verbreitet wurde. Dadurch wurden die meisten gedruckten Werke Kants, einige Rohentwürfe und Briefe zum ersten Mal dem russischsprachigen Leser zugänglich gemacht. Alleine die Tatsache, dass die gesammelten Werke in der Sowjetunion in der Nachkriegszeit veröffentlicht wurden, hatte viel zu bedeuten. Mit dieser Ausgabe wurden Kant und seine Philosophie von einem gewissen Anflug an Kohledunst endgültig befreit, der ihnen sowie auch der Philosophie des deutschen Idealismus insgesamt während des Kampfes der  Roten Armee gegen die Wehrmacht anhaftete. Von dieser schwierigen Situation zeugt am besten das traurige Schicksaal des dritten Bandes der „Geschichte der Philosophie“, herausgegeben von G. A. Alexandrov u. a. (das sogenannte „graue Pferd“), welcher der deutschen Philosophie  vom Ende des 18. Bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (1942) gewidmet war. Sowohl während des Ersten Weltkrieges, der unter anderem von solchen Aufsätzen wie dem Artikel von W. F. Ern „Von Kant zu Krupp“ begleitet wurde, als auch während des Großen Vaterländischen Krieges war die Darstellung der Klassiker der deutschen Philosophie völlig undenkbar, ohne dass deren potentielle Verantwortung für den Nationalsozialismus, oder, wie man damals üblicherweise sagte, für den Faschismus erwähnt worden wäre. Ein Ende dieser mühsamen Arbeit wurde endgültig 1944 durch den niederschmetternden Erlass des Zentralkomitees der kommunistischen Partei unter dem Titel „Über Mängel und Fehler in der Erläuterung der Geschichte der deutschen Philosophie vom Ende des 18. – bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts“ bereitet. Der „Mysl’“- Verlag schickte der Ausgabe der Werke Kants in sechs Bänden eine folgende Bemerkung voraus: „Immanuel Kant ist Begründer der deutschen klassischen Philosophie, die als eine der theoretischen Quellen des Marxismus gilt. Die Geschichte der Dialektik und die Rolle der klassischen deutschen Philosophie in ihrer Entwicklung bleiben unbegreiflich, ohne dass man die wichtigsten Schriften dieses Denkers studiert hätte. Man braucht des Weiteren die  Werke Kants, um die moderne bürgerliche Philosophie kritisieren zu können, deren zahlreiche Richtungen in der einen oder anderen Weise auf die reaktionären Seiten der kantischen Philosophie zurückzuführen sind. T. I. Oiserman, der Autor des Vorwortes, fügte hinzu, dass die Übersetzung „der früher veröffentlichten Werke Kants nicht als völlig zufriedenstellend zu bewerten sei, in einigen Fällen seien diese Übersetzungen von den Anhängern der idealistischen Philosophie ausgeführt worden, sie wären daher von ihren eigenen Ansichten geprägt und verzerrten dadurch das Denken Kants“. Er äußerte die Hoffnung darauf, dass die neuen Übersetzungen und die neue Ausgabe selbst im Allgemeinen „den Hauptanforderungen der marxistisch-leninistischen geschichtsphilosophischen Wissenschaft entsprechen würden“.

Nach der Veröffentlichung der gesammelten Werke Kants in sechs Bänden wurde eine Reihe weniger umfangreicher Arbeiten des Königsberger Philosophen, die in diese Ausgabe nicht aufgenommen wurden, in philosophischen Fachzeitschriften veröffentlicht. Mit Freude sei erwähnt, dass der Sammelband der Kaliningrader Universität, welcher ursprünglich „Fragen des theoretischen Erbes von Immanuel Kant“ (1975–1980) hieß und später, ab 1981, in „Kantischer Sammelband“ umbenannt wurde, hier einen der ersten Plätze belegte. Weitere Materialien (Auszüge aus Handschriften, einzelne Briefe und anderes mehr) wurden auch in den „Fragen der Philosophie“ und anderen Fachzeitschriften veröffentlicht. Seit dem Ende der 80-er Jahre erschienen auch Übersetzungen von Abschnitten Kantischer Vorlesungen zu den deinen oder anderen  Fächern – diese Arbeit wird bis heute fortgeführt.

Zu Beginn der 90-er Jahre des 20. Jahrhunderts, schon im zeitgenössischen Russland, waren die Bücher Kants eine richtige bibliographische Rarität, woran ich mich noch sehr gut anhand meiner Studienjahre an der philosophischen Fakultät der Moskauer Lomonossow-Universität erinnere. Damals bildete sich schon morgens im Lesesaal der Bibliothek des ersten geisteswissenschaftlichen Universitätsgebäudes eine Schlange aus Studenten, die hofften, früher als andere Pechvögel die wenigen in der Bibliothek vorhandenen Exemplare der „Kritik der reinen Vernunft“ zu ergattern. Zum Teil wurde dieser Bedarf an Büchern gedeckt, als 1994 die gesammelten Werke Kants in acht Bänden erschienen, herausgeben von A. W. Gulyga. Im Unterschied zu der sechsbändigen Ausgabe der 60-er Jahre stellten diese acht Bände eine vollständigere Ausgabe dar. Diese Ausgabe war zeitlich auf das 200-jährige Jubiläum der Mitgliedschaft Kants an der Petersburger Akademie der Wissenschaften festgelegt. Im Unterschied zu der früher erschienenen Ausgabe in sechs Bänden sah der Verlag, wie  in der kurzen Inhaltsangabe angemerkt, den Vorteil der neuen gesammelten Werke Kants gerade in der Wiederherstellung „von klassischen Übersetzungen, ausgeführt von N. Lossky, W. Solovjev, P. Florensky, soweit es nur möglich war“. Dennoch sei zu erwähnen, dass auch in dieser Ausgabe nach wie vor einige Schriften Kants fehlten, und einige Werke, wie früher, nicht ohne Kürzungen abgedruckt wurden. Gewisse Mängel dieser Art sind in späteren Veröffentlichungen vollständig übersetzter  einzelner Werke Kants beseitigt worden, unter anderem handelt es sich um den „Streit der Fakultäten“. In den letzten Jahren wurde auch die „Kritik der reinen Vernunft“ von verschiedenen Verlagen mehrmals neu herausgegeben. Allerdings gibt es neben den in wissenschaftlicher Hinsicht erstklassigen Ausgaben auch richtig schlampige Wiedergaben, die es fertigbringen, schon während des Umbruchs den Inhalt gründlich zu verzerren.

Ebenfalls in den 90-er Jahren begann die Arbeit an den neuen gesammelten Werken Kants, die bis heute weitergeht. Sie unterscheidet sich grundsätzlich von allen früheren Ausgaben durch die Zweisprachigkeit; es gibt darin den parallelen deutschen Text. Die neue Ausgabe der gesammelten Werke, herausgegeben von N. W. Motroschilova und dem im Königsberg geborenen und im vergangenen Jahr verstorbenen B. Tuschling, zählt bis heute dank den Bemühungen des Instituts für Philosophie der Russischen Akademie der Wissenschaften und der Universität zu Marburg vier Bände in fünf Büchern; zur Zeit werden zwei Halbbände der „Metaphysik der Sitten“ Kants zur Veröffentlichung vorbereitet. Höchstwahrscheinlich wird diese Arbeit auch in Zukunft fortgesetzt. Im Vorwort zu der neuen Ausgabe betonte B. Tuschling den revolutionären Charakter der Philosophie Kants, und zwar in vielerlei Hinsicht. N. W. Motroschilova wies ihrerseits auf die Einzigartigkeit der zweisprachigen Ausgabe der gesammelten Werke Kants hin, sowohl für Russland als auch für die ganze Welt, wobei sie die ersprießliche Art der Zusammenarbeit mit den deutschen Kollegen hervorhob.

Es ist außerdem zu erwähnen, dass viele russischsprachige Texte Kants, die unterschiedliche Art und Qualität aufweisen, eine weite Verbreitung im Internet finden (einschließlich der verschiedenen eingescannten Ausgaben – Frage der Urheberrechte lasse ich ausgeklammert). Das alles zeugt davon, dass sowohl der Massenleser als auch der philosophiekundige Fachmann, der sich aber  in der Kantforschung nicht so gründlich auskennt, heute russischsprachige Werke Kants so leicht ausfindig machen können wie nie zuvor. Um an das langersehnte Buch zu kommen, braucht man heute nicht mehr gleich nach der Öffnung in den Lesesaal zu rennen. Doch leider hat das alles nur einen geringen Einfluss auf eine seriöse Auseinandersetzung mit der Philosophie Kants in Russland. Um ein bedauerliches Beispiel von bis ins Grenzenlose reichenden Fantasien anzuführen, braucht man nicht auf naives Gerede von Hausfrauen zu verweisen, sondern ich beziehe mich dafür auf das Zitat eines wissenschaftliche Ansprüche stellenden Mannes, des Mitglieds der Russischen Akademie der Wissenschaften (historisch-philologische Abteilung) und Direktors des Instituts für wissenschaftliche Information der Russischen Akademie der Wissenschaften (INION), des Vorsitzenden des Expertenausschusses  für Geschichte (WAK) – Ju. S. Pivovarov: „…bekanntlich ist in den Ausführungen Kants über die Weltregierung ein sehr wichtiger Gedanke enthalten – Kant sprach davon, dass Russland Sibirien nicht regieren könne. Das geht mir sehr nahe.“ Bedauerlicherweise ist das nicht das einzige Beispiel.

Kantforschungen. Bevor ich kurz auf die eigentlichen russischen Kantforschungen der Nachkriegszeit eingehe, möchte ich in Erinnerung rufen, dass mindestens noch vor kurzer Zeit, d.h. vor dem Ausbruch der so genannten „Reformen“ und der „Modernisierung“ des Bildungswesens, auf den philosophischen Fakultäten der UdSSR in der Nachkriegszeit und später in der Russischen Föderation die „klassische deutsche Philosophie“ als Pflichtfach unterrichtet wurde. Sowohl die Bezeichnung  als auch der Sonderstatus dieses Lehrgangs gelten als eine direkte Folge der marxistisch-leninistischen Ideologie. Der Begriff „klassische deutsche Philosophie“ entstammt der Arbeit von F. Engels „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der  klassischen deutschen Philosophie“ (1886).

Ursprünglich wurde dieser Begriff lediglich in Bezug auf den Marxismus gebraucht und erst in letzter Zeit stellt man mit Verwunderung fest, dass er über den genannten Rahmen hinausgegangen ist. Diese sattsam bekannte „klassische deutsche Philosophie“ hat ihre Ausnahmestellung im Rahmen der sowjetischen und heutzutage der russischen Bildungslandschaft nicht zuletzt der Arbeit von W. I. Lenin „Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus“ (1913) zu verdanken. Darin wurde sie neben dem utopischen Sozialismus und der klassischen Politökonomie als Grundlage der Lehre von Marx legitimiert, welche „allmächtig ist, denn sie ist wahr“. Solch eine ideologische Einrahmung hatte nicht unbedeutende Konsequenzen und ernsthafte Verzerrungen zur Folge. Erstens war der Königsberger Denker zwar der erste, stand aber in einer bestimmten  Reihenfolge „klassischer deutscher Philosophen“. Und wenn er auch von Bedeutung war, so doch nicht an sich selbst, sondern als Vorläufer von J. G. Fichte, F. Schelling und hauptsächlich Hegel, welcher, seinerseits, über L. Feuerbach, zum Entstehen der wahren Lehre – der Lehre von Marx – beitrug. Neben dem Leitmotiv Kants als Vorläufer wurde diese Periode der marxistischen Kantforschung der Sowjetzeit durch eigenartige Versuche gekennzeichnet, einen geheimen Materialismus bzw. einen gewissen revolutionären Charakter bei Kant zu finden, sowie auch durch die zum Überdruss gewordenen Ausführungen über die „Dialektik“ Kants.

Heute gibt es diesen ideologischen Druck nicht mehr, doch das alte methodologische Schema herrscht weiterhin vor. Das führt zur auffallenden Dominanz dessen, was man in der deutschen geschichtsphilosophischen Tradition üblicherweise „Wirkungsgeschichte“ der philosophischen Lehren nennt, und zwar auf Grund dessen, weil „Quellengeschichte“ weitgehend ignoriert wird. Als eine der traurigen Folgen daraus ist die Diskreditierung der deutschen Aufklärung zu nennen. Dennoch gab es mindestens eine auffallende Veränderung in dem Unterricht der „klassischen deutschen Philosophie“ nach 1991. Früher, zur Sowjetzeit, herrschte im Rahmen dieses Lehrgangs die Philosophie Hegels deutlich vor, während heutzutage die Krone eindeutig Immanuel Kant aufgesetzt wird.

Die Notwendigkeit, die klassische deutsche Philosophie als ein selbstständiges Universitätsfach oder als Teil eines allgemeinen Lehrgangs zur Geschichte der Philosophie zu unterrichten, ließ eine Vielzahl von Kantforschern unterschiedlichen Ausbildungs- und Kompetenzniveaus aufkommen, sowie auch zahlreiche Publikationen über die Philosophie Kants, ebenfalls unterschiedlicher Qualität. Aus meiner Sicht lassen sich zwei Kreise in der russischen Kantforschung hervorheben – ein engerer, der eigentlich historisch-philosophische Kreis und ein breiterer, welcher die Lehre Kants auf andere Problembereiche bezieht; dieser Trend war schon vor der Revolution in Russland zu verzeichnen.

Nimmt man die russische Kantforschung im engeren Sinne, so handelt es sich dabei um einen Fachbereich der geschichtsphilosophischen Forschungen, die sich extra der Philosophie Kants und ihrer näheren Umgebung widmen, wobei ausschließlich Kant im Mittelpunkt des geschichtsphilosophischen Forschungsinteresses steht. Dennoch wenden sich auch Vertreter anderer philosophischen Disziplinen, wie Ästhetik, Logik, Epistemologie usw. Kant zu. Vertreter weiterer philosophischer Richtungen in Russland, unter anderem der Phänomenologie, der analytischen Philosophie usw. stehen ebenfalls in gewissem Sinne im Dialog mit der Kantforschung. Letztere beziehen sich auf die Philosophie Kants in Bezug auf einige in diesen Sphären diskutierte Probleme, wobei diese Forschungen von Wissenschaftlern durchgeführt werden, für welche Kant kein spezielles philosophisches Interesse darstellt. Dieser Forschungsbereich gehört meines Erachtens zur russischen Kantforschung im breiten Sinne. Die Wechselbeziehung dieser zwei Bereiche der Kantforschung bleibt nicht immer ungetrübt, mitunter kann es auch zu Konflikten kommen.

Was die Quantitätsseite der russischen Kantforschung in der Nachkriegszeit angeht, so wurden solche Untersuchungen auf Grund der russischen Bibliographie der Werke Kants und der Werke über Kant durchgeführt, welche von L. S. Davydova erstellt wurde und den Zeitraum bis 1994 umfasst. Die Gesamtzahl der Veröffentlichungen über Kant in russischer Sprache erreicht ihren Höhepunkt Mitte der 70-er Jahre des 20. Jahrhunderts,  die bedeutendsten Publikationen erscheinen Mitte der 80-er Jahre. In den zehn Jahren von Mitte der 80-er bis Mitte der 90-er Jahre ging die Gesamtzahl der auf Russisch veröffentlichten Literatur über Kant zurück. N. W Motroschilowa schätzt die damalige Kantforschung in Russland wie folgt ein: „Insgesamt handelte es sich eher um eine Bewegung in die Breite als in die Tiefe, was eine in der weltweiten Kantforschung undenkbare und unmögliche Praxis zur Folge hatte: Bei uns halten sich für Kantforscher auch diejenigen, die Bücher und Artikel nicht auf der Grundlage von Originaltexten schreiben, sondern nur anhand der Übersetzungen Kants“. Inwieweit sich die Situation quantitätsmäßig in den letzten zwanzig Jahren verändert hat, lässt sich ohne spezielle Untersuchung schwer beurteilen. Ich kann nur vermuten, dass sie sich wohl kaum grundsätzlich verändert haben mag. Allerdings erschienen mehr tiefgreifende Forschungen, und 2004 kam es sogar zu einem Aufschwung in der Literatur anlässlich des doppelten Jubiläums Kants.

Meines Erachtens hat sich in der russischen Kantforschung in den letzten 20 Jahren ein gewisser Wandel in thematischer und inhaltlicher Hinsicht vollgezogen. Es gibt keine marxistisch orientierten Untersuchungen von Problemen der Dialektik bei Kant mehr, wobei die naturwissenschaftlichen Themen in seinen Werken nicht mehr als Zeugnis von materialistischen oder gar atheistischen Tendenzen wahrgenommen werden. Die in der Sowjetzeit vorherrschende neokantisch gefärbte Interpretation der „Kritik der reinen Vernunft“ als einer erkenntnistheoretischen Abhandlung verliert immer mehr ihre dominierende Stellung. Zur gleichen Zeit entwickelt sich die sogenannte „Logische Kantforschung“, welche noch zur Sowjetzeit zum selbstständigen Forschungsthema wurde,  auch heute erfolgreich. Vor allem gilt das für Kaliningrad, wo der im vorigen Jahr verstorbene Prof. W. N. Brjuschinkin dazu erheblich beigetragen hat. Wenn man in der sowjetischen Kantforschung Kant in bedeutendem Maße mit den Augen von Fichte, Schelling, Hegel oder Marx (schlimmstenfalls Lenin) ansah, so wird in der heutigen russischen Kantforschung eher solchen Philosophen wie H. Cohen, E. Husserl, M. Heidegger, L. Wittgenstein, T. Adorno, M. Foucault, K.-O. Apel und anderen der Vorzug gegeben. Zugleich haben die Versuche an Bedeutung gewonnen, Kant ausgehend von Chr. Wolff, A. G. Baumgarten, J. N.  Tetens, J. H. Lambert, G. F. Meier, J. G. Hamann u a. zu begreifen, sowie auch die Suche nach den Quellen der Philosophie Kants. Zuweilen nimmt Kant in diesen zwei Auffassungen eine derart unterschiedliche Gestalt an, dass der Eindruck entstehen könnte, es handele sich um zwei verschiedene Denker. Solche Veränderungen wären unmöglich gewesen, ohne dass man die deutsche Aufklärung rehabilitiert  hätte und sich über die selbstständige Bedeutung der Philosophie Kants bewusst geworden wäre.

Die Erforschung der Rezeption der Philosophie Kants in der russischen Philosophie, Literatur und Kultur, deren Grundlagen bereits in der Sowjetzeit gelegt wurden, erlebt heute  einen offensichtlichen Aufschwung.  Es besteht Bedarf an einer neuen russischsprachigen Biographie Kants, welche an Stelle der Arbeit von A. W. Gulyga treten könnte. Langsam wird von der falschen Vorstellung  einer totalen Ablehnung der Ideen Kants auf russischem Boden Abstand genommen. Dennoch bleibt das Thema „Kant und das orthodoxe Christentum“ weiterhin prekär: in diesem Zusammenhang besteht ein dringender Bedarf an neuen Untersuchungen. Einer der Hauptnerven der russischen Kantforschung ist nach wie vor neben der religiösen Problematik in der Ethik Kants zu suchen. Leider gibt es in Russland neben erstklassigen Studien über die Philosophie Kants wie schon früher weiterhin jede Menge Publikationen, deren Qualität viel zu wünschen übrig lässt. Es wird Jahre brauchen, um diese Situation in der russischen Kantforschung zu verbessern.

Um das Thema der russischen Kantforschungen abzurunden, möchte ich noch eine ungelöste und wohl nicht völlig bewusst gewordene Aufgabe hervorheben, die aus meiner Sicht gerade vor der Kaliningrader Kantforschung steht. Es handelt nämlich sich um eine besondere Kant-Schule, die Ende des 19. Jahrhunderts – im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in Königsberg entstand und die bedeutende Unterschiede gegenüber der übrigen Kantforschung in Deutschland aufwies. Als solche Sondermerkmale galten das erhöhte Interesse für Kant als Persönlichkeit und für die damit verbundenen bibliographischen Materialien sowie das Interesse für Kant als Dozent der Königsberger Universität und vielseitiger Lektor (und dementsprechend für mündliche Tradition), für Kant als Bewohner Königsbergs und Ostpreußens. Die Weiterentwicklung dieser  Richtung in der Kantforschung, vertreten durch solche Namen, wie R. Reicke, E. Arnold, O. Schöndörffer, A. Warda, A. Kowalewski, K. Stavenhagen u. a., wurde nach dem Zweiten Weltkrieg abgebrochen. Von Königsberg getrennt, konnten diese Arbeiten in der BRD nicht fortgeführt werden. Darüber hinaus gerieten sie auch in der deutschen Kantforschung mit der Zeit in Vergessenheit, so dass sie für die neue Forschergeneration oft eine terra incognita darstellen. Wenn es der modernen Kantforschung in Kaliningrad gelänge, diese Richtung der Königsberger Kantforschung fortzusetzen und weiterzuentwickeln, würden davon nicht nur russische, sondern auch deutsche und viele andere Kantforscher profitieren.

Akademisches Leben. Dass Königsberg zu Kaliningrad wurde, hat wohl am meisten das akademische Leben beeinflusst. Es wäre wohl kaum denkbar, dass an einer anderen sowjetischen oder russischen Universität eine ausschließlich der Philosophie Kants gewidmete periodische Druckschrift erscheinen würde. Gerade in Kaliningrad wurde ab 1975 unter verschiedenen Namen ein „Kantischer Sammelband“ veröffentlicht, in der Sowjetzeit als Jahrbuch, in den ersten postsowjetischen Jahren auf einer weniger regelmäßigen Grundlage. Dennoch gelang es nicht, die Herausgabe einer periodischen Druckschrift wie etwa «Kant-Studien» oder «Studi Kantiani» in der Sowjetunion in die Wege zu leiten. Erst 2008 wurde ein neuer Versuch unternommen, den „Kantischen Sammelband“ diesmal als Fachzeitschrift wieder aufleben zu lassen, die anfangs zwei Mal und danach vier Mal im Jahr erschien.

Keine andere russische Universität außer der Kant-Universität in Kaliningrad wäre wohl in der Lage, ein Kant-Institut zu gründen. Keine andere Universität könnte wohl regelmäßig  „Kant-Lesungen“ durchführen; die ersten fanden anlässlich des 250-jährigen Jubiläums Kants 1974 statt, die zehnten und bis heute die letzten 2009. Doch auch hier war eine Fortführung dieser Tradition keine leichte Sache. Auch in anderen Städten, Universitäten und Instituten war die Veranstaltung von großen Konferenzen nur aus Anlass großer Jahrestage möglich, vor allem in den Jahren 1974, 1981 oder 2004. Insbesondere das letzte Jubiläum war durch zahlreiche Konferenzen gekennzeichnet: in Moskau am Institut für Philosophie der Russischen Akademie der Wissenschaften (IFRAN), an der Moskauer Lomonossow-Universität (MGU) und der Russischen Staatlichen Universität für Geisteswissenschaften (RGGU),  in Sankt-Petersburg an der St. Petersburger Staatsuniversität, in Kaliningrad an der Baltischen Föderalen I. Kant-Universität und in Omsk an der Omsker Staatlichen Dostojevsky-Universität. Daran haben viele ausländische Kollegen teilgenommen, was von einer allmählichen Wiederaufnahme alter Verbindungen zwischen russischen und ausländischen Kantforschern zeugt.

Als die bedeutendsten Zentren der Kantforschung im heutigen Russland sind vor allem Moskau (IFRAN, MGU, RGGU), St. Petersburg (St. Petersburger Staatsuniversität) und Kaliningrad zu nennen; die gesamte Geografie der russischen Kantforschung ist jedoch viel breiter vertreten. Allein in den letzten zehn Jahren wurden Dissertationen über die Philosophie Kants neben den oben genannten Städten auch in Tomsk, Murmansk, Tver’, Uljanovsk, Jekaterinburg, Tscheljabinsk, Nizhnevartovsk, Novosibirsk, Tambov, Wolgograd und sogar Sotschi verteidigt. Doch vor dem Hintergrund der jüngsten Skandale mit gefälschten Doktorarbeiten zu historischen Themen wird die Frage nach der Qualität dieser Promotionen besonders akut.

Abgesehen von einer dringend notwendigen Erhöhung des fachlichen Niveaus hat die moderne russische Kantforschung mehrere schwierige Aufgaben zu bewältigen: einerseits geht es darum, eine ausgewogene Stellung gegenüber den Traditionen der Vorrevolutionsperiode und der Sowjetzeit zu beziehen, andererseits sollte man seinen eigenen Platz in der internationalen Kantforschung finden, wobei man seine Stimme behält ohne Epigonentum zu betreiben und fremden Problemen und Themen nachzugehen.

Kulturelle und öffentliche Wahrnehmung. Ich versuche nun einige Veränderungen in der kulturellen und öffentlichen Wahrnehmung Kants im Nachkriegsrussland an einem Beispiel aus der schöngeistigen Literatur zu skizzieren. Dank der Tatsache, dass Königsberg in Kaliningrad umgewandelt wurde, wo heute noch die Gebeine des berühmten Philosophen am Dom ruhen, ist Kant vielen Russen viel näher geworden, was sich unter anderem in den Witzen über den „russischen Philosophen Kant“ niederschlug. Schließlich gehörte ja die Stadt, obwohl sie weiterhin Königsberg hieß, im 18. Jahrhundert zum Russischen Reich, und Kant war viereinhalb Jahre russischer Staatsangehöriger.

Die Popularisierung und die Massenverbreitung der Vorstellung vom „russischen Philosophen Kant“ weist jedoch eine Kehrseite auf, obwohl Kaliningrad zum Glück  in dieser Hinsicht gegen Salzburg nicht aufkommt, welches erbarmungs-  und gewissenlos mit dem Namen Mozarts spekuliert. War Kant in der russischen Literatur bereits ab Ende des 18. Jahrhunderts eine bedeutende handelnde Person, die in die Erörterung von ernsthaften und wichtigen Fragen einbezogen wurde, so entwickelte sich die literarische Person Kants nach dem Großen Vaterländischen Krieg mit seltenen Ausnahmen zu einer Karikatur. In der von Kant handelnden Literatur der damaligen Zeit findet sich kaum etwas wirklich Herausragendes. Da lässt die moderne russische Literatur Salzburg weit hinter sich, indem sie den berühmten Spruch Kants über den gestirnten Himmel und das moralische Gesetz aus der „Kritik der praktischen Vernunft“ erbarmungslos ausbeutet. Immer öfter hört man diese Worte auch in Spielfilmen, wo sie die traurigen Eingebungen von S. D. Krzyżanowski aus der Erzählung „Lebenslauf eines Gedankens“ (1922) nur bestätigen, welche uns erst Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts bekannt wurden. Diese verspätete Entdeckung des erst 1950 verstorbenen Krzyżanowski stellt aus meiner Sicht die hervorragendste Seite der literarischen Werke über Kant aus den letzten Jahrzehnten dar. Beim Nachdenken über die traurige Beschreibung Krzyżanowskis mag man hoffen, dass die Gedanken des Königsberger Philosophen nicht endgültig begraben und vom Grabstein nicht unwiderruflich zerdrückt worden sind.

© 2013 Alexei Krouglov

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