Geschichte

Eine globale Geburtstagsfeier

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170 Gäste hatten sich angemeldet, insgesamt vierzehn Nationen waren vertreten, um gemeinsam den 297. Geburtstag des Königsberger Philosophen Immanuel Kant (1724-1804) am 22. April 2021 zu feiern. Wie und wo soll man so viele Gäste unterbringen? Ganz einfach, im Zimmer daheim, denn das große Fest fand virtuell statt.

Marianne Motherby, stellvertretende Vorsitzende der Gesellschaft „Freunde Kants und Königsbergs e.V.“ moderierte die dreistündige Veranstaltung in Berlin, zusammen mit ihrer russischen Vorstandskollegin Svetlana Kolbanjova in Königsberg/Kaliningrad.

Die Geburtstagsfeier Kants hat eine lange Tradition. Ein Jahr nach Kants Tod, zum 22. April 1805, organisierten seine Freunde und Tischgenossen ein Gedächtnismahl. Federführend war William Motherby, ein Urururgroßvater der Moderatorin. Man beschloss, daraus eine Tradition zu machen, Höhepunkt des Festes war jeweils das „Bohnenmahl“. Eine silberne Bohne ist in einem Kuchen eingebacken, und wer sie bekommt, wird „Bohnenkönig“ oder „Bohnenkönigin“ und muss beim nächsten Geburtstagsfest eine Rede über Kant halten.

Russische Studenten und Wissenschaftler führten seit 2005, dem 750. Jahrestag der Stadt Königsberg/Kaliningrad diese Tradition weiter, und die „Freunde Kants und Königsbergs“ unter dem Vorsitz von Gerfried Horst reisen seit Jahren jeweils im April ins nördliche Ostpreußen, in die Kaliningrader Oblast. Vor Ort findet ein interessantes Kultur- und Geschichtsprogramm statt, und der Höhepunkt ist das „Bohnenmahl“, das große Festbankett, an dem in Königsberg/Kaliningrad Kant-Freunde aus Russland, Deutschland und anderen Ländern teilnehmen, darunter stets auch hochrangige Vertreter aus Politik, Kultur und Wissenschaft.

Corona stoppte 2020 alle Pläne, aber 2021 sollte ein opulentes Geburtstagsfest am Bildschirm stattfinden.

Frau Marianne Motherby eröffnete den Abend, begrüßte die Gäste und freute sich über die große Anzahl der Anmeldungen. Die Technik machte es möglich: Svetlana Kolbanjova führte die Gäste virtuell nach Königsberg zum Dom und zum Kant-Grab, wo der Generalkonsul Hans Günther Mattern ein Grußwort sprach. Das Wetter meinte es nicht gut; nass und kalt war es. Der Generalkonsul stellte den Gedanken des Friedens in den Mittelpunkt seiner Ansprache und bezog sich auf Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“. Die EU, so meinte er, habe ein Grundübel des europäischen Kontinents beseitigt: Kriege um Land und Grenzen. Kants Grab aber hat die Kriege überstanden, sogar die verheerenden Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Aus diesem Symbol zog der Redner den Schluss: „Kant ist unzerstörbar!“

Boris Bartfeld, der Vorsitzende der russischen Gesellschaft „Freunde des Bohnenkönigs“, gab seiner Freude Ausdruck, dass sich trotz Pandemie wieder viele Menschen im Dom und an Kants Grab versammelt hatten. Er sprach das „Kant-Jahr 2024“ an und hoffte, dass dann die Gäste aus aller Welt wieder nach Königsberg kommen können – nach der Pandemie. Die Vorbereitungen laufen bereits an.

Die Geburtstagsgäste wurden sogar in den Dom geführt, wo um 16.00 Uhr ein großer Festakt stattgefunden hatte. Im Rahmen dieses Festaktes erhielten Professor Dr. Leonard Kalinnikow einen Ehrenbrief als Anerkennung für seine langjährige Lehrtätigkeit an der Kant-Universität und Prof. Dr. Wladimir Gilmanow einen Ehrenbrief der Gebietsduma für seine mehr als 20jährige ehrenamtliche Arbeit im Kulturbereich für die Kaliningrader Jugend.

Prof. Dr. Gilmanov hielt den Festvortrag zu Ehren des „Geburtstagskindes“. Er lenkte den Blick auf die aktuelle Weltlage und sprach von dem „widernatürlichen Ende aller Dinge“ im Kantischen Sinne. Er begann gleich mit der Forderung nach „Ehrlichkeit“. Das hieße wohl, dass die Menschen zugeben müssten, dass sie „aus Faulheit und Feigheit“ und damit aus „selbstverschuldeter Unmündigkeit“ es so weit haben kommen lassen, anstatt sich auf ihre Verantwortung zu besinnen. Ein harter Vorwurf gleich als Einstieg. Die „Entfremdungs-Dynamiken“ hätten sich inzwischen nicht nur im militärischen und politischen Bereich, „sondern auch zur biologisch-organischen Überlebensgrenze zugespitzt“, so Gilmanov.

Kant nennt in seiner Schrift „Das Ende aller Dinge“ 1. das „natürliche Ende aller Dinge nach der Ordnung moralischer Zwecke göttlicher Weisheit“, 2. „das mystische (übernatürliche) Ende derselben“ und 3. „das widernatürliche (verkehrte) Ende aller Dinge, welches von uns selbst dadurch, dass wir den Endzweck missverstehen, herbeigeführt wird“.

Kant stellt sich die Frage, warum sich die Menschen überhaupt mit einem „Jüngsten Tag“, einem „Weltgericht“, einem „Nirwana“ oder einem „Ende der Welt“ auseinandersetzen. Es mag, vereinfacht ausgedrückt, an dem Wunsch nach einem unveränderbaren Endzustand liegen, den es jedoch nicht geben kann. Es sei aber auch, noch vereinfachter ausgedrückt, die hochmütige Vorstellung, einen „Endzweck“ allen Daseins erkennen und vielleicht sogar beeinflussen zu können. Das aber, so Kant, solle man besser der „Vorsehung“ überlassen.

Prof. Gilmanov nannte die moderne Zivilisation „irregeführt“. Die Menschheit sei in eine „Meta-Geschichte“ eingetreten, die wirklich ihr Ende bedeuten kann. Ein verstörendes Menschenbild und der Verlust einer moralischen Orientierung könnten eine globale Vernichtung bewirken. Die technischen Voraussetzungen sind ja da.

Gilmanov warnte vor einer „Freiheitsvorstellung“, „basierend auf dem modernen selbstmörderischen Menschenverständnis“, vor dem Kant gewarnt habe. Er (Gilmanov) schließe sich nicht der Vorstellung an, die Geschichte der Menschheit sei zu Ende. Es gebe einen Gegenentwurf zu dieser Erwartung, und zwar in der „sittlichen Verfassung“, die die Vernunft durch das moralische Gesetz vorschreibt. Nach diesem Gesetz zu handeln ist der Mensch genötigt, aber aus Einsicht und freier Entscheidung. Kant fügt dem in der Schrift „Das Ende aller Dinge“ die Liebe hinzu, die ein „unentbehrliches Ergänzungsstück der Unvollkommenheit der menschlichen Natur“ sei. Kant, so Gilmanov, biete eine gute Alternative zu den zerstörerischen Tendenzen heute.

In diesen Zusammenhang stellte der Redner das Verhältnis Russland-Deutschland, und da gebrauchte er das Wort „Liebe“. Er hob hervor, dass Kant trotz seines Weltbürgertums ein deutscher Philosoph sei. Er nannte sich selbst einen „Kant liebenden Russen“ und sprach von seiner Liebe zur deutschen Geistesgeschichte und zu seinen deutschen Freunden heute. Für ihn manifestiert sich die Verbundenheit zwischen Deutschland und Russland in der Kant-Universität. „Und wenn 2005 der russische Präsident Wladimir Putin den Erlass über die Begründung der Immanuel-Kant-Universität in dem russischen Königsberg/Kaliningrad unterzeichnet, zeigt er bewusst oder unbewusst, dass Russlands Freiheitsvorstellung eine große Verwandtschaft mit Kant hat.“

Kant wäre somit ein Meilenstein „auf dem Weg zum wahren Völkerbund und ewigen Frieden“, aber auf der Partnerschaft von Russland und Deutschland.

Gerfried Horst, der Vorsitzende der Gesellschaft „Freunde Kants und Königsbergs“, gab in seiner Begrüßungsansprache seiner Freude über die große internationale Geburtstagsgesellschaft Ausdruck. „Das Unglück, nicht wieder in die Heimatstadt Kants reisen zu können, hat uns auf den glücklichen Gedanken gebracht, Kant-Freunde in vielen Ländern der Welt heute, am 22. April, dem Geburtstag Kants, mit Hilfe der digitalen Technik zusammenzubringen.“

Glück – Unglück – Sprichwörter und Parabeln gibt es dazu aus allen Völkern. Kant stammte aus einfachen Verhältnissen und habe sicherlich diese Volksweisheiten gekannt, erklärte Gerfried Horst und wählte das russische Sprichwort: „Wir hätten kein Glück gehabt, doch das Unglück hat uns geholfen.“

Es hatte den Kant-Freunden dabei geholfen, in einer besonders großen „Gemeinschaft zu denken“, rund um den Globus, in der Tradition Kants und seiner Freunde. Horst zog dazu den Aufsatz Kants „Was heißt: Sich im Denken orientieren?“ heran und zitierte: „Allein wie viel und mit welcher Richtigkeit würden wir wohl denken, wenn wir nicht gleichsam in Gemeinschaft mit andern, denen wir unsere und die uns ihre Gedanken mitteilen, dächten!“ 

Von den Kant-Freunden in aller Welt konnte der Gastgeber Gerfried Horst nun auch einige „persönlich“ begrüßen, per Videoschaltung. So erschien der englische Schriftsteller Lord Egremont, der Kants Leistung der „Aussöhnung“ verschiedener philosophischer Schulen ansprach und die weltgeschichtliche Bedeutung seiner Vaterstadt Königsberg, besonders heute, hervorhob. Das deutsche Königsberg und das russische Kaliningrad sei die wichtigste Brücke zwischen Russland und Deutschland und ganz Europa, und das durch den Weltweisen Kant.

Prof. Han Shuifa von der Universität Peking hatte einen Beitrag geschickt, in dem die Bedeutung Kants in China Aufschluss über die Geschichte des „Reiches der Mitte“ gibt. 1866 wird Kant zum ersten Mal von dem britischen Missionar Joseph Edkins erwähnt. Dann erscheinen Artikel chinesischer Gelehrter u.a. über Kants Ethik und Erkenntnistheorie. 1922 wird Karl Vorländers Kant-Biografie auf Chinesisch veröffentlicht, und zum 200. Geburtstag 1924 erscheinen mehr als dreißig Forschungsbeiträge. In den 30er Jahren werden die großen Werke Kants ins Chinesische übersetzt. Nach der Gründung der Volksrepublik China 1949 gibt es neue Übersetzungen der Hauptwerke und verstärkte Zusammenarbeit mit sowjetischen Wissenschaftlern. Nach der Öffnung 1980 erlebt die Kant-Forschung in China eine Hochblüte. Heute ist Kant die bekannteste deutsche Kulturpersönlichkeit, an jeder Universität präsent. 2019 fand an der Universität Peking eine internationale Konferenz statt und die „Chinesische Kant-Gesellschaft“ wurde gegründet.

Prof. Klaus Denecke aus Rio de Janeiro war virtuell anwesend und stellte sich den Kant-Freunden zu einer Diskussionsrunde zur Verfügung.

Die Gäste hörten ferner noch Wissenswertes über das Ostpreußische Landesmuseum Lüneburg von dem dortigen Kurator Dr. Tim Kunze, der seit acht Monaten mit der Konzeption der Kant-Ausstellung beschäftigt ist, die am 22. April 2024 eröffnet werden soll. 500 qm Ausstellungsfläche sind vorgesehen, und die Kant-Sammlung von Lorenz Grimoni aus dem „Museum Königsberg“ aus Duisburg wird den Hauptbestandteil bilden. Es gibt nur noch wenige Gegenstände aus Kants persönlichem Besitz, aber wer die Ausstellung 2004 in Duisburg besucht hat, weiß, welche Schätze in der größten Kant-Ausstellung der Welt in Lüneburg zu sehen sein werden.

Das Bohnenmahl konnte nicht abgehalten werden, aber Gerfried Horst bat Kants Geburtstagsgäste, virtuell miteinander anzustoßen. „Ich gratuliere Ihnen zum Geburtstag Immanuel Kants und wünsche Ihnen Gesundheit und Frieden!“

© 2021 Dr. Bärbel Beutner

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