Im Vorwort zu seiner Erstlingsschrift, deren Erscheinen Kant mit seinem 23. Geburtstag datiert, also mit 22. April 1747, schreibt er mit ungewöhnlich starkem Selbstbewusstsein, dass vor der Wahrheit alle urteilsvermögenden Individuen gleich seien, was auch für Newton oder Leibnitz gelte. Es wäre möglich, diese auch „auf Fehlern zu ertappen“, denn für die Erkenntnis der Wahrheit wird „viel erheblicher sein, als wenn man nur immer die Heeresstraße gehalten hatte. Hierauf gründe ich mich. Ich habe mir die Bahn schon vorgezeichnet, die ich halten will. Ich werde meinen Lauf antreten, und nichts soll mich hindern, ihn fortzusetzen.“
Schon in dieser Erklärung zeigt sich etwas, was echt bewundernswert und etwas geheimnisvoll ist und an die bekannten Grenzsituationen in der westeuropäischen Geschichte erinnert, sei es Luthers „So stehe ich und kann nicht anders“ oder Galileis „Und trotzdem dreht sie sich“. Was für eine Kraft inspiriert den jungen Kant zu so einem kühnen Bekenntnis im Vorwort seiner Erstlingsschrift, die dem europaweiten Streit um das physikalische Kräftemaß gewidmet ist? Was geht vor sich in der jungen, von dem Druck der Autoritäten „reinen“ Vernunft des vorkritischen Kant? Welche Prädikabilie – in Kants „Kritik der reinen Vernunft“ wird der Begriff „Kraft“ als eine Prädikabilie zur Kategorie der Kausalität definiert – also welche apriorische Verstandesdisposition bedingt so eine selbstbewusste Selbsterfahrung? Vielleicht ist die Antwort zu suchen in der künftigen Vorrede Kants zur „Kritik der reinen Vernunft“: „Als Galilei seine Kugeln die schiefe Ebene mit einer von ihm selbst gewählten Schwere herabrollen ließ…, so ging allen Naturforschern ein Licht auf. Sie begriffen, dass die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt…“.
Es besteht eine große Versuchung das Wort „Licht“ im metaphorischen Sinn zu verstehen, was jedoch den weiteren Gedankengang über Kant und Aufklärung fatal macht. Denn „ein Licht“ ist im breiten kulturhistorischen Kontext ein wahres Rätsel und bleibt, wie viele Forscher festgestellt haben, im innigsten Wesen der Aufklärung mit der ehrlichen Suche nach einer Kraft für wahre Bewegung verbunden. Nach wie vor ist die Grundfrage in allen Kulturformen – von der Religion bis zu modernsten Naturwissenschaften – so: Was bewegt? Wodurch bewegt? Zu welchem „Ende aller Dinge“ bewegt? Denn eine falsche Antwort führe nicht zum „natürlichen Ende aller Dinge“, sondern zum widernatürlichen, so Kant in seiner Schrift „Über das Ende aller Dinge“, verfasst 1794 praktisch gleichzeitig mit dem Friedensprojekt „Zum ewigen Frieden“.
Im zeitgenössischen und autobiographischen Kontext des jungen Kant lässt sich die junge lichtvolle gewagte Entschlossenheit Kants – mindestens zum Teil – durch den Einfluss seines Königsberger Philosophielehrers Martin Knutzen erklären, der zu einer der wichtigsten Richtungen der Aufklärungsdynamik gehörte – Physikotheologie. Ein dramatisches Paradoxon der Zeitgeschichte ist wohl, dass dieser Begriff, der zu den generationstragenden in der Begriffswelt der Aufklärungszeit gehörte, beinahe fast plötzlich aus dem Bewusstsein der Menschheit entschwunden ist. Ohne den physikotheologischen Impuls ist aber der Anfang der Naturwissenschaft im 17. – 18. Jahrhundert nicht zu verstehen! Im innigsten Wesen der Physikotheologie ist die theologisch optimistische Vorstellung von einer neuen Lichtkraft enthalten, die mit dem alttestamentarischen Begriff „Kabod“, d.h. „kraftvolle Herrlichkeit“, in Verbindung gesetzt wird. Der Kabod lässt sich in dem theologischen Sinn als eine strahlend weiße Feuersubstanz um Gott herum interpretieren. Also Gottes Licht, das als Quelle der Mannigfaltigkeit der materiellen Natur vorkommt, gleichfalls aber die Substanz des menschlichen Verstehens ausmacht. Die materielle Leiblichkeit dieses Lichtes ist dem Begriff „Äther“, synonymisch „Weltstoff“ oder „Wärmestoff“ am nächsten. Dieser Begriff taucht schon in Kants Dissertation „De igne“, also „Über den Feuerstoff“ und in der stark physikotheologisch geprägten Schrift „Physische Monadologie“ (1756) auf und kommt auch in den späteren Texten vor, auch im unvollendeten „Von dem auf Principien a priori gegründeten Übergange von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik“.
Den Kabod, d.h die Herrlichkeit Gottes bejubelt der Physikotheologe Newton in seinem Traktat „Principia mathematica philosophiae naturalis“ und dankt dem Herrlichen für Seine mathematisch-funktionell perfekte Schöpfung, was den Anfang eines neuen Naturbegriffs beinhaltet!
Die kulturellen Implikationen dieses neuen Naturbegriffs erregten eine methodenreiche Turbulenz aller gemeinschaftsbildenden Wertbegriffe. In dieser turbulenten Zeit erschien Kants Erstling „Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte und Beurteilung der Beweise, deren sich Herr v. Leibnitz und andere Mechaniker in dieser Streitsache bedient haben, nebst einigen vorhergehenden Betrachtungen, welche die Kraft der Körper überhaupt betreffen“. Hiermit war Kant einbezogen in den Versuch, eine Lösung für eines der zentralen Probleme der Naturwissenschaften zu finden und zwar für das Problem des Kräftemaßes eines bewegten Körpers. Kants Versuch erscheint inmitten eines großen Streitfeldes, auf dem die zwei philosophischen Riesen der Neuzeit – Descartes und Leibnitz – zusammengestoßen sind. Ausgehend von seiner Theorie von der Konstanz der Bewegung im Universum (Prinzipien der Philosophie, 1644, II, §36 ff.) bestimmt Descartes das Maß der Bewegungsenergie als Produkt von Masse und Geschwindigkeit. Also F = m * v.
Leibnitz reagierte 1686 mit dem „Kurzen Abriss des bemerkenswerten Irrtums des Cartesius“. Das ist nur ein kurzer Anfang des langen Titels des Abrisses, in dem schon die theologische Dimension des Streites deutlich zustande kommt, denn es geht um die Frage, ob Gott als Schöpfer des Weltsystems die gesamte Quantität aller Bewegungsenergien im Universum unverändert lässt, auch in der Mechanik der Natur. Ausgehend von Galileis mathematischem Gesetz der Fallbewegung bestimmt Leibnitz, dass für die Kraft eines bewegten Körpers Masse mal das Quadrat der Geschwindigkeit gelte. Also F = m * v2.
Später 1695 führte Leibnitz in der Schrift „Beispiel aus der Dynamik für die bewundernswerten Gesetze der Natur“ die Unterscheidung zwischen „lebendiger“ und „toter“ Kraft ein. Diese Unterscheidung ist am nächsten zu der zwischen der kinetischen und potentiellen Energie in der Begriffswelt der modernen Naturwissenschaft. Die kinetische, also „lebendige Kraft“ ist eine Ortsveränderung bewirkende Energie, d.h. die eigene Energie eines bewegten Körpers, mit der causa efficientis von Aristoteles vergleichbar. Die potentielle, als „tote Kraft“, ist die einer Spannung, Widerstand darstellenden Energie.
Kants Schrift sucht das Streitproblem des Kräftemaßes nicht im rein mechanisch-mathematischen Sinn zu lösen, sondern in einem physikotheologisch geprägten, aber ganz eigenartig wirkenden, eher unbewusst psychologisch suchenden Zugang, der sich sowohl von Descartes und Newton, als auch von Leibnitz unterscheidet und zur Versuchung einer blitzschnellen, oft empörenden Ablenkung provoziert, was auch bis heute der Fall ist.
Kurz gefasst lässt sich Kants Lösung unter dem Akzent seiner Auseinandersetzung mit Leibnitz so darstellen:
„Tote Kräfte“ von Leibnitz sind latente Wirkungen ohne wirkliche Bewegung. „Lebendige Kräfte“ äußern sich in wirklicher Bewegung. Für die „toten Kräfte“ gelte die Formel von Descartes, also die Messung nach dem Produkt aus Masse und einfacher Geschwindigkeit. Für die „lebendigen Kräfte“ gelte Leibnitz, also die Messung nach dem Produkt aus Masse und dem Quadrat der Geschwindigkeit. In seiner Lösung aber widerspricht Kant allen und allem – dem Cartesius mit seinen mathematisch nachweisbaren Körpern in der göttlich koordinierten Geometrie der Substanz der räumlichen Ausdehnung, dem Leibnitzschen Prinzip der prästabilierten Evolutionsbewegung des Weltsystems zum Guten, unbewusst auch dem modernen Erhaltungsgesetz der Energie, zu dem Leibnitz unwillkürlich beigetragen hat. Kant behauptet, dass nur die lebendigen Kräfte eine an sich unendliche Wirkung in der Einheit des Universums besitzen. Die Energie toter Kräfte dagegen geht verloren, sobald der Bewegungsanstoß eines z.B. auf einer Unterlage gelegenen Körpers aufgehört hat. Diese Behauptung versucht Kant zu erklären durch die Einführung in §115 des Unterschieds zwischen dem mathematischen und dem natürlichen Körper und deren beiderseits betreffenden Gesetze.
Was meint oder besser zu sagen vermutet er dabei? Denn Kant ist gut in seinem Verstehen der Newtonschen Mechanik, er kennt sich in Descartes‘ Theorie der zwei Substanzen und in der Monadenlehre von Leibnitz sowie in den zahlreichen Werke seiner Zeitgenossen aus, die immer wieder im Text erwähnt werden – Jacob Hermann, Johann Bernoulli, Peter van Musschenbrook u. a.
Was ist? Nach meiner Meinung zeigt Kant etwas, was echt beachtenswert ist: Er zeigt eine junge Intuition über die Gefahr einer modern naturwissenschaftlich legitimierten falschen Bewegungstheorie auf der Grundlage der Idolatrie des mathematischen Ideals, theologisch vergöttlicht sowohl bei Descartes und Newton, als auch bei Leibnitz, d.h. in den Methoden der Leitbilder der Epoche! Das Prinzip des zureichenden Grundes, dessen Sicherheit voll und ganz dem absoluten Gott anvertraut wird entweder deistisch wie bei Descartes und Newton oder durch Prästabilieren wie bei Leibnitz, kommt dem jungen Kant als unzureichend vor, was in seiner Auslegung der „toten Kräfte“ zu ersehen ist . Kant zeigt hier die ersten Anfänge seiner weiteren Bemühung um die Würde der menschlichen Vernunft, die zu einer ontologieformenden Verantwortung berufen ist. Im §125 schreibt er: „Die lebendigen Kräfte werden in die Natur aufgenommen, nachdem sie aus der Mathematik verwiesen worden. Man wird keinem von beiden großen Weltweisen, weder Leibnizen noch Cartesen, durchaus des Irrtums schuldig geben können… Es heißt gewissermaßen die Ehre der menschlichen Vernunft verteidigen, wenn man sie in den verschiedenen Personen scharfsinniger Männer mit sich selber vereiniget und die Wahrheit, welche dieser ihre Gründlichkeit niemals gänzlich verfehlet, auch alsdenn herausfindet, wenn sie sich gerade widersprechen“. Er zeigt einen lebhaften teleologisch orientierten Willen zur Überwindung sowohl der Leibnitzschen Vorstellung über das pantheistisch dirigierte Funktionieren der Monadenkollektive, die aus vereinzelten kontaktlosen Ichs „ohne Fenster“ bestehen, als auch der deistischen Mechanik, deren kulturelle Implikationen nicht nur Ontologie und Anthropologie, sondern auch gesellschaftliche Politik in einen bloßen Mechanismus zu verwandeln drohen.
Was auch betont sei, ist, dass Kants physikotheologische Einstellung sich von seinem Königsberger Lehrer Knutzen unterscheidet, der ihn in Newtons Mechanik unterrichtete und Newton mit der Wolffisch-Leibnitzschen Schulmetaphysik zu verbinden sucht. Knutzen fügte in die prästabilierte Harmonie von Leibnitz, die eine materielle Wechselwirkung der einzelnen Monaden ausschloss, die ursprünglich antioccasionalistische, d.h. teleologisch orientierte, sehr esoterisch geprägte Kompromisstheorie des sog. influxus physicus, d. h. das Prinzip der unsichtbaren physikalischen Verknotung und gesetzmäßigen Wechselwirkung zwischen Monaden, so eine Art dunkle Entelechie im Sinne von Aristoteles. Also alles auf der Welt präformiert sowohl im physikalischen als auch im erkenntnistheoretischen Sinn! Was ist aber mit „der Ehre der menschlichen Vernunft“, die Kant im §125 verteidigen will?
In seiner Definition des Gesetzes über „lebendige Kräfte“ zeigt sich Kants Wille zur Rettung der Vernunft und erst dadurch zur „Rettung der Phänomene“. Kant äußert in seinem Text die Meinung, dass „tote Kräfte“ sich steigern könnten vom „Zustand, da die Kraft des Körpers zwar noch nicht lebendig ist, aber doch dazu fortschreitet“ (§123). Kant nennt das „die Lebendigwerdung oder Vivification“!!!
Dieser Gedanke einer Erhebung von einer bloßen Bewegungsgröße zu einer lebendigen Kraft wurde selbstverständlich abgelehnt, wie auch Kants Idee vom ersatzlosen Verschwinden von Bewegungsenergie. Die bis heute anhaltende Kritik basiert auf dem Prinzip des absoluten Determinismus, öfters bis zum Fatalismus im Verstehen unseres Weltsystems. Was wäre eine Alternative? Kants Antwort ist FREIHEIT, selbstverständlich nur angedeutet in der These über die „Lebendigwerdung“, in der kritischen Periode entwickelt aber in der Systematik des kritischen Idealismus. In der ersten Schrift zeigt Kant einen beachtenswerten Lebensmut zur Überwindung des fatalistischen Determinismus. Sein Lehrer Knutzen, der schon im Alter von 21 Jahren zum Professor wurde, widmete seine Dissertation dem Beweis über die Unvermeidlichkeit des Weltendes. Trotz der positiven Antwort auf die „Frage, ob die Erde veralte, physikalisch erwogen“ (1754) will Kant etwas, was er später „das natürliche Ende“ nennt im Gegensatz zu dem „widernatürlichen“: „Natürlich heißt, was nach Gesetzen einer gewissen Ordnung, welche es auch, mithin auch der moralischen (also nicht immer bloß der physischen), notwendig folgt“ (B.6, S. 182). Karl Vorländer erwähnt, dass Kant in den schweren Jahren seines Heranwachsens öfters wiederholte: „Ich versuche, die Dinge mir, nicht mich den Dingen unterzuordnen“. MIR heißt dem moralischen Gesetz in MIR! Selbstverständlich zeigt Kants Lösung damals und heute die enge Bindung an die Metaphysik, deren Kraftbegriff wechselseitige Einwirkung zwischen Körpernatur und Seele beinhaltet. Im mechanistischen Weltsystem gilt es nicht, und Kants Versuch hatte keine Chance. Darüber hinaus kannte er nicht und zog daher nicht in Betracht D`Alemberts Beitrag zum Streit, der 1743 erschien, also 6 Jahre vor Kants Schrift: In diesem wurde die allgemein anerkannte Lösung des Problems der Messung vorgeschlagen in der Formel F = mv2/2. Lessing reagierte erbarmungslos:
Kant unternimmt ein schwer Geschäfte,
Der Welt zum Unterricht.
Er schätzet die lebend`gen Kräfte,
Nur seine schätzt er nicht.
Eine harte Probe für den jungen Kant! Wie jedoch die postkantische Weltgeschichte zeigt, bleibt Kant nach wie vor eine „lebendige Kraft“, die „der Welt zum Unterricht“ anzuwenden wäre. Im §131 versucht Kant vom Prinzip der Vivification und Intensivierung der Naturkräfte her seine jugendliche Theorie als das Gerüst für eine Dynamik der Zukunft vorzugeben. Am Ende seiner Erstlingsschrift äußert Kant seinen Dank an Leibnitz, „denn ich würde nichts vermocht haben, ohne den Leitfaden des vortrefflichen Gesetzes der Kontinuität, welches wir diesem unsterblichen Erfinder zu danken haben, und welches das einzige Mittel war, den Ausgang aus diesem Labyrinthe zu finden“ (S. 240). Ob in dem heutigen Labyrinth der globalen Zivilisationsgefahren Kant, wenn schon nicht das einzige Mittel, dann der erste Schritt für den Ausgang wäre? Es liegt an uns in der heutigen von Globalgefahren bedrohten Menschheit, ob wir das Kantische Gerüst auch in uns als das Gesetz der Freiheit akzeptieren oder endgültig zerstören…
© 2019 Prof. Dr. Wladimir Gilmanov