Kant-Zukunftswerkstatt 2022, 18. September 2022
Als Immanuel Kant die erste Phase seines Lebens am Ende seines Studiums 1746 mit seinen Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte abschloss, war er sich sicher, welchen Weg er einschlagen wollte. Er war 22 Jahre alt und hatte es gewagt, sich in seiner Erstlingsschrift kritisch mit den Großmeistern der Erkenntnis auseinander zu setzen. Als junger unbekannter Wissenschaftler hatte er es mit den Geistesriesen René Descartes, Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz aufgenommen. Er verstand sich als ein freier Denker, der von seinem eigenen Verstand Gebrauch machen konnte, ohne sich durch übergroße Vordenker gängeln zu lassen. Und so hatte er sich schon als junger Mann die Laufbahn eines Gelehrten vorgezeichnet, und nichts sollte ihn hindern, sie fortzusetzen.
In den kommenden dreißig Jahren lieferte Kant zahlreiche Beweise seines wissenschaftlichen Talents, vor allem im naturkundlichen Bereich. Anschaulich, erfahrungsgesättigt und gut durchdacht erforschte, beschrieb und erklärte er zahlreiche natürliche Phänomene: wie Vulkane und Erdbeben zustande kommen, ob die Erde in ihrer Achsendrehung sich verändert habe, ob die Erde in physikalischer Hinsicht veralte, wie Feuer funktionieren, wie Windbewegungen entstehen und verlaufen, wie sich Ruhe und Bewegung physikalisch erklären lassen. Auch Gefühle und geistige Prozesse untersuchte er wie ein Wissenschaftler, der sich auf empirische Erfahrungen konzentrierte und nach theoretischen Erklärungen suchte.
Einen Höhepunkt seiner Gelehrtenarbeit bildete seine Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprung des ganzen Weltgebäudes, nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt, die er 1755 publizierte. Sie war eine naturphilosophische Großtat. Er konnte sie nur leisten, weil er den mechanischen Grundsätzen folgte, die ihm durch das Studium der 1687 veröffentlichten Philosophiae Naturalis Principia Mathematica (Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie) von Isaac Newton vertraut geworden waren.
Doch all diese wissenschaftlichen Arbeiten, so erhellend, gut durchdacht und anschaulich geschrieben sie auch sein mochten, verblassen angesichts der Schrift, die auf der Ostermesse 1781 in Leipzig erschien. Kant war bereits 57 Jahre alt, als seine Kritik der reinen Vernunft veröffentlichtwurde und nicht nur einen Bruch in seiner eigenen geistigen Entwicklung markierte, sondern die ganze Philosophie zu revolutionieren begann. Denn 1781 betrat der weltberühmte kritische Kant die philosophische Szene, während seine bisherigen Arbeiten als vorkritische Schriften immer weniger Aufmerksamkeit auf sich zogen.
Was war das Neue dieser reinen Vernunftkritik, das sie zu einem Schlüsselwerk der modernen Philosophie werden ließ? Und welche Konsequenzen hatte es für die folgenden Werke Kants, in denen er den kritischen Impuls von 1781 für die Lösung von grundlegenden Problemen der Moral, der Geschichtsbetrachtung, des Rechts und der Politik fruchtbar machen konnte?
I. „Was kann ich wissen?“ Kants kopernikanische Wende der Philosophie.
Der vorkritische Kant hatte die Natur erforscht und studiert, wobei er nicht daran zweifelte, dass Newtons mechanische Prinzipien, durch mathematische Formeln ausgedrückt, einen Königsweg der naturwissenschaftlichen Erkenntnis bildeten. Auch für seine eigene Theorie und Geschichte des Kosmos hatte er sich darauf verlassen. Doch schon seit Beginn der 1770er Jahre, gerade zum Professor für Logik und Metaphysik ernannt, wollte er wissen, warum ihm dieser Weg der Erkenntnis so sicher erscheinen konnte. Zehn Jahre lang dachte er über das erkenntnistheoretische Problem nach, wie eine Theorie à la Newton überhaupt möglich sein konnte. Es galt, die mathematischen Grundlagen selbst zu begründen und die wissenschaftliche Naturerkenntnis als solche kritisch zu reflektieren. Kant forderte das theoretische Wissen, das in Newtons Theorie vorbildlich entwickelt worden war, dazu auf, das beschwerliche Geschäft der Selbsterkenntnis auf sich zu nehmen. Und da er ja auch selbst sich an Newtons Grundsätzen orientiert hatte, gab er seiner neuen Aufgabe eine persönlich klingende Wendung: „Was kann ich wissen?“ Er reflektierte also zugleich auch sein eigenes naturphilosophisches Weltmodell, „um endlich den ganzen Umfang der reinen Vernunft, in seinen Grenzen sowohl, als seinem Inhalt, vollständig und nach allgemeinen Prinzipien zu bestimmen.“
Das war das Programm einer Meta-Physik, die allerdings nicht die Physik als Erfahrungswissenschaft der Natur überstieg, sofern sie nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist. Sie ging nicht über sie hinaus. Sie schweifte oder schwärmte nicht in ein hyperphysisches Reich, das sich dem Wissen entzieht. Kants Metaphysik zielte vielmehr auf den Grund, auf dem eine mathematisch systematisierte Erkenntnis der Natur sicher aufgebaut werden kann. Dass Kant die theoretische Vernunft, die er kritisch zu analysieren oder zu begründen versuchte, als „rein“ charakterisierte, erhellt die Absicht seiner Kritik der reinen Vernunft. Es ging ihm nicht mehr um den Reichtum und die Vielfalt der tatsächlich gemachten Erfahrungen (a posteriori), mit denen es die Wissenschaft zu tun hat, sondern um die allgemeinen, wesentlichen Prinzipien des Wissens, die es unabhängig von konkreten Erfahrungen (a priori) rein zu bestimmen galt. Nur durch diese Unterscheidung zwischen „der reinen und der empirischen Erkenntnis“, die Kant in der Einleitung seiner Kritik der einen Vernunft vollzog, glaubte er die Grundlagen und die Grenzen dessen bestimmen zu können, was wir wissenschaftlich wissen können.
Dabei kam Kant auf einen revolutionären Gedanken, der untrennbar mit seinem Namen verbunden ist. Denn er musste feststellen, dass der sichere Gang mathematischer Beweisverfahren und naturwissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung nur möglich war, weil Mathematik und Naturwissenschaft nicht in der unübersehbaren Fülle von Erfahrungstatsachen herumtappen, sondern dass sie von sich aus Begriffe, Methoden und theoretische Entwürfe entwickeln, mit denen sie sich gezielt an die Natur wenden, um von ihr Antworten auf ihre Fragen zu erhalten.
Das war die „Revolution der Denkart“, der Kant philosophisch nachfolgte, um sie kritisch aufzuklären. In der Vorrede zur zweiten Auflage seiner Kritik der reinen Vernunft hat er sie 1787 an den Forschungen des Galileo Galilei verdeutlicht. „Als Galilei seine Kugeln die schiefe Fläche mit einer von ihm selbst gewählten Schwere herabrollen ließ, ging ihm ein Licht auf. Er begriff, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, daß sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitfaden gängeln lassen müsse; denn sonst hängen zufällige, nach keinem vorher entworfenen Plane gemachte Beobachtungen gar nicht in einem notwendigen Gesetze zusammen, welches doch die Vernunft sucht und bedarf. Die Vernunft muß mit ihren Prinzipien, nach denen allein übereinkommende Erscheinungen für Gesetze gelten können, in einer Hand, und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen, an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der den Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt.“
Die theoretische Vernunft schöpft all ihre Erkenntnisse nicht aus der Natur, sondern entwirft versuchsweise Modelle, die grundlegenden Prinzipien folgen und experimentell die Natur zu Reaktionen herausfordern, mit denen sie unsere Theorien bestätigt oder widerlegt. Damit hat das menschliche Erkenntnissubjekt eine tonangebende Rolle im Spiel der theoretischen Naturerkenntnis gewonnen. Denn es legt aufgrund seiner eigenen Erkenntnisinteressen der Natur die Fragen vor, auf die sie zu antworten hat. Das war Kants gewagte Revolution, die er mit dem Namen „Kopernikus“ signierte. Wie in dessen 1543 erschienen Büchern De revolutionibus orbium coelestium (Über die Umdrehungen der himmlischen Kugelschalen) hat sich auch bei Kant eine Umdrehung zwischen der Position des Menschen und seinen Erkenntnisobjekten ergeben.
Aber Kants Wende war zugleich anti-kopernikanisch. Denn sie war eine Wiedergutmachung der Kränkung, die mit der kopernikanischen Dezentrierung der menschlichen Stellung im Weltall verbunden war. Der Mensch schien bedeutungslos geworden zu sein, weggerollt aus dem Mittelpunkt des Sonnensystems in eine bloße Umlaufbahn. Dagegen hat Kant den Menschen als Erkenntnissubjekt wieder neu zentriert. Denn es ist ja der Mensch selbst, der sein Wissen von der Welt kreativ erschafft. Er hat eine ungeheure Souveränität gewonnen, weil er alle Erscheinungen unter seine eigenen Prinzipien und Gesetze fassen kann. Mit einem neu erwachten Selbstbewusstsein ließ Kant ein autonomes Subjekt die Bühne der Philosophie betreten, dessen eigene Schöpferkraft der Welterkenntnis einen sicheren Gang ermöglicht.
II. „Was soll ich tun?“ Praktische Vernunft für freie Menschen.
Vier Jahre nach seiner Kritik der reinen Vernunft , im April 1785, liegt dem Lesepublikum Kants neuestes Buch vor, seine Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in der er sich zum ersten Mal grundsätzlich mit Problemen der Moral und Ethik beschäftigt. Die praktische Frage „was soll ich tun?“ erweitert und ergänzt die theoretische Frage der Kritik der reinen Vernunft: „was kann ich wissen?“ Ihre Antwort findet Kant in einer metaphysischen Grundlegung oder Kritik der praktischen Vernunft, in deren Zentrum die Idee eines möglichen reinen Willens steht, der, da es jetzt um Moral geht, eine „reiner guter Wille“ ist.
Als Philosoph ist es nicht Kants Absicht, zu erfahren, was von Menschen tatsächlich alles gewollt wird und wie von ihnen in der Welt praktisch gehandelt wird oder agiert werden soll, um gut durchs Leben kommen zu können. Er ist kein Psychologe. Auch geht es ihm nicht darum, als Jurist einzelne Handlungen unter mögliche Gesetze zu fassen und danach zu beurteilen, ob sie zulässig oder verboten sind. Das ist die Aufgabe der Rechtslehre. Kant argumentiert als Ethiker: „Die Ethik gibt nicht Gesetze für Handlungen (denn das tut das Ius), sondern nur für die Maximen der Handlungen.“ Als Moralphilosoph versucht ant zu begründen, warum Maximen, das heißt: subjektive Prinzipien des Handelns wie Ehrlichkeit, Verlässlichkeit im Versprechen, freundliches Wohlwollen und Wahrhaftigkeit, als sittlich gut gelten können, dagegen Maximen wie Unehrlichkeit, falsches Versprechen, feindselige Missgunst und Lust zur Lüge verworfen werden sollten. Für diese Grundlegung braucht es ein Unterscheidungskriterium. Kant will keinen neuen Grundsatz aller sittlichen Handlungen einführen oder erfinden, als seien vor ihm die Menschen moralisch unwissend oder in ständigem Irrtum befangen gewesen. Vielmehr vertraut er darauf, dass sein Grundbegriff eines reinen guten Willens dem „gesunden Verstande beiwohnet und nicht sowohl gelehrt als vielmehr nur aufgeklärt zu werden bedarf.“ Es komme darauf an, ihn sich klar zu machen und von Vagheiten und Missverständnissen zu befreien.
Dass man seine willentlichen Handlungen zunächst nach ihren subjektiven Grundsätzen (Maximen) betrachten muss, setzt Kant voraus. Nicht die unübersehbare empirische Mannigfaltigkeit tatsächlich stattfindender Handlungen interessiert ihn, sondern die Kraft der Maximen, denen man dabei folgt. Die Aufgabe einer reinen praktischen Vernunft ist es nun, diese Grundsätze einer vernunftkritischen Prüfung zu unterziehen. Nur wenn sie diese Probe bestehen, kann ihnen die Qualität der Moralität zugesprochen werden. Zu nichts anderem dient der Kategorische Imperativ, dieses erstaunliche Grundgesetz einer über sich selbst aufgeklärten praktischen Vernunft: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“
Konkretes individuelles Handeln, selbst gewählte oder gewollte Maxime und allgemeines, objektives Gesetz werden durch den Kategorischen Imperativ in einer Formel zusammengefügt, die zur kritischen Prüfung des sittlichen Gehalts der befolgten subjektiven Handlungsprinzipien dienen kann. An mehreren Fallbeispielen hat Kant es exemplarisch vorgeführt. Das Ergebnis ist immer das gleiche. In einzelnen konkreten Situationen kann man zwar lügen, betrügen oder stehlen wollen. Vielleicht weiß man sich nicht anders aus einer schwierigen Situation ziehen zu können. Aber daraus kann nicht gefolgert werden, dass man es als ein allgemeines Gesetz auch wollen könne, lügen, betrügen, verleumden oder stehlen zu dürfen, wann immer einem danach der Sinn steht. Die Befolgung solcher verwerflichen Maximen würde nämlich zu einem allgemeinen Orientierungsverlust im gesellschaftlichen Zusammenleben führen, den niemand, sofern er zu vernünftigen Überlegungen fähig ist, wirklich wollen kann.
Bemerkenswerterweise spricht Kant als reiner Moralphilosoph nicht von Staatsinteressen oder einer königlich-landesväterlichen Leitung des Volkes, auch nicht von Heiligen Schriften, religiösen Überzeugungn oder kirchlich festgelegter Rechtgläubigkeit. Offensichtlich spielen Staat und Kirche, König und Gott in seiner Maximen-Ethik keine Rolle. Gegen staatliche und kirchliche Mächte stellt er die moralische Selbstgesetzgebung freier Menschen, die sich aus ihrer Unmündigkeit befreit haben und von sich aus für sich die Frage beantworten können: Was soll ich tun? Auch im Fall der (reinen) praktischen Vernunft vollzog Kant eine kopernikanische Wende. Nicht äußere Gewalten, die bestimmen, wie der Mensch zu handeln habe, stehen im Zentrum der moralphilosophischen Reflexion, sondern die inneren Maximen menschlicher Subjekte, die zu einer moralischen Selbsterkenntnis in der Lage sind. Das Sollen des Kategorischen Imperativs entstammt der subjektiven Selbstgesetzgebung des Willens. Es ist ein Appell an sich selbst als eine auto-nome Person, wobei im „du“ jedes einzelne Individuum mit seinesgleichen in ein allgemeines Verhältnis eingebunden ist. Denn es ist ja deine eigene praktische Vernunft, mit der du deine selbst gewählten Maximen der Probe unterwirfst, ob sie als Prinzipien einer allgemeinen Gesetzgebung gelten können.
III. „Was darf ich hoffen?“ Weltgeschichte in kosmopolitischer Hinsicht.
„Was kann ich wissen?“ war die Schlüsselfrage einer reinen theoretischen Vernunft, die sich über ihre eigenen Gründe, Möglichkeiten und Grenzen klar werden wollte. „Was soll ich tun?“ wurde durch eine reine praktische Vernunft zu beantworten versucht, die auf die moralische Selbstgesetzgebung des mündigen Menschen vertraute. Auf die Frage „Was darf ich hoffen?“ hat Kant in doppelter Hinsicht reagiert. Er hat sie religionsphilosophisch zu beantworten versucht und im Glauben eine tröstende Kraft wirken sehen, die den Menschen angesichts all der real erfahrbaren Leiden und Bedrohungen nicht in die Verzweiflung stürzen lässt. Darauf will ich jetzt nicht näher eingehen. Und er hat diese Frage, angeregt vor allem durch die politischen Programmideen der Aufklärung, auch geschichtsphilosophisch behandelt. Was darf ich hoffen, wenn ich mich aus der instinktgesteuerten Vormundschaft der Natur, der Machtstruktur despotischer Staaten und der dogmatischen Rechtgläubigkeit religiöser Eiferer zu befreien versuche?
Denn auch der mündige Mensch bleibt ja in eine Weltgeschichte eingebunden, die ihn immer wieder mit neuen Problemsituationen herausfordert. Hat sie einen Sinn? Hat sie ein Ziel? Oder ist diese Geschichte eine ewige Abfolge von Beunruhigungen, die den Menschen quälen und nicht zur Ruhe und Vernunft kommen lassen?
Seit Mitte der 1780er Jahre, als Kant sich den politischen Freunden der Aufklärung annäherte und sich auf moralphilosophische Probleme zu konzentrieren begann, beschäftigten ihn diese Fragen. Eine erste Antwort gab er mit seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Hinsicht, die 1784 in der „Berlinischen Monatsschrift“ erschien und bereits die wesentlichen geschichtsphilosophischen Überlegungen skizzierte, die Kant in den neunziger Jahren weiter ausführen wird. Dabei verfolgte er eine doppelseitige Argumentationslinie. Er verband die Feststellung von historischen Erfahrungstatsachen mit rationalen, philosophischen Gedanken, die den geschichtlichen Prozess begreifen lassen.
Kant war Realist. Er besaß einen klaren Blick für gesellschaftliche und geschichtliche Tatsachen. Hinsichtlich dessen, was einzelne Menschen oder staatliche Gewalten tun, machte er sich keine Illusionen. Seit die Menschen sich nicht mehr instinktmäßig wie Tiere verhalten, aber auch keine Heiligen sind oder wie vernünftige Weltbürger nach einem guten Plan handeln, scheinen chaotische Zustände zu herrschen, so dass Kant feststellen musste: „Man kann sich eines gewissen Unwillens nicht erwehren, wenn man ihr Tun und Lassen auf der großen Weltbühne aufgestellt sieht; und, bei hin und wieder anscheinender Weisheit im einzelnen, doch endlich alles im großen, aus Torheit, kindischer Eitelkeit, oft auch aus kindischer Bosheit und Zerstörungssucht zusammengewebt findet: wobei man am Ende nicht weiß, was man sich von unserer auf ihre Vorzüge so eingebildeten Gattung für einen Begriff machen soll.“
Es ist ein verworrenes Spiel menschlicher Dinge, das sich dem aufmerksamen Betrachter der Weltgeschichte zeigt und Kant feststellen ließ: „Aus so krummem Holze, als woraus die Menschen gemacht sind, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.“ Sie bieten kein besonders liebenswürdiges Bild. Oft handeln sie gegeneinander, „getrieben durch Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht.“ Auch zwischen den einzelnen Stämmen oder Staaten, in denen sich Menschen vergesellschaftet haben, geht es meist um Machtpolitik. Seit Anfang der Menschheitsgeschichte gibt es Angriffe und Eroberungen, Kriege und Völkermorde. Wie oft sich die Fortschritte der Kultur durch barbarische Verwüstungen wieder zunichte gemacht worden; und wie oft haben Kriege zerstört, was zivilisatorisch mühsam aufgebaut worden war. Die Menschheit scheint die hoffnungslose Anstrengung auf sich genommen zu haben, den Stein des Sisyphos bergauf zu wälzen, um ihn immer wieder zurückrollen zu lassen.
Doch Kant wollte sich als engagierter Aufklärer nicht auf eine bloß empirische Anschauung der Menschheitsgeschichte beschränken. Er entwarf eine „philosophische Geschichte“ und konzipierte als ein philosophischer Kopf eine Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Hinsicht, wobei er sich an einem Leitfaden der Vernunft zu orientieren versuchte, der die Erfahrungstatsachen zwar nicht verdrängte, aber anders begreifen ließ. Gegen das, was tatsächlich geschah, entwickelte er die Idee eines Rechts, das hoffen ließ, dass sich die politische Geschichte zum Guten wenden ließ.
Gerade die traurige Erfahrung all der mörderischen Kriege und allseitigen Gewalttätigkeiten, die so viel Not und Leid für die Menschheit gebracht haben, brachte Kant auf die Idee, „aus dem gesetzlosen Zustande der Wilden hinaus zu gehen, und in einen Völkerbund zu treten: wo jeder, auch der kleinste, Staat seine Sicherheit und Rechte nicht von eigener Macht, oder eigener rechtlichen Beurteilung, sondern allein von diesem großen Völkerbunde, von einer vereinten Macht, und von der Entscheidung nach Gesetzen des vereinigten Willens, erwarten könnte.“
War Kant ein schwärmerischer Utopist? Ein Träumer, der seine Idee für die Wirklichkeit hielt? Nein, antwortete er: Er sei kein Illusionist, sondern ein Philosoph der Aufklärung. Ihm komme es darauf an, prognostisch in den historischen Erfahrungen etwas von dem zu entdecken, was den Gang der Geschichte als einen mühsamen langen Weg zu einem allgemeinen weltbürgerlichen Zustand begreifen lasse. Und dafür gebe es schon einige Anzeichen. Bürgerliche Freiheiten, gesetzliche Zustände, zwischenstaatliche Annäherungen, Welthandel und die allgemeine Freiheit des religiösen Glaubens lassen hoffen, was vernünftigerweise erwartet und herbeigeführt werden kann: „Und so entspringt allmählich, mit unterlaufendem Wahne und Grillen, Aufklärung, als ein großes Gut, welches das menschliche Geschlecht sogar von der selbstsüchtigen Vergrößerungsabsicht seiner Beherrscher ziehen muss, wenn sie nur ihren eigenen Vorteil verstehen. Diese Aufklärung aber, und mit ihr auch ein gewisser Herzensanteil, den der aufgeklärte Mensch am Guten, das er vollkommen begreift, zu nehmen nicht vermeiden kann, muß nach und nach bis zu den Thronen hinauf gehen, und selbst auf ihre Regierungsgrundsätze Einfluß haben.“
Rückschläge sind nicht zu vermeiden. Das grausame Narrenspiel auf der großen Weltbühne ist noch lange nicht zu Ende. Doch trotz aller Hindernisse, Gegenbewegungen und Abstürze wird als ein großes Gut die Idee der Aufklärung lebendig leiben, die „eine tröstende Aussicht in die Zukunft“ eröffnet, in welcher die Menschengattung in weiter Ferne vorgestellt wird, wie sie sich endlich doch zu dem Zustande empor arbeitet, der ihrer Bestimmung entspricht, selbstverantwortliche freie Bürger auf dieser einen gemeinsamen Welt sein zu können, Dazu aber ist, wie Kant 1784 angedeutet hat, eine Dialektik der Aufklärung notwendig und wünschenswert, die philosophische Idee und praktisches Handeln miteinander verbindet. Denn der erhoffte Fortschritt der allgemeinen Menschheitsgeschichte sei nur möglich, wenn der Mensch der Aufklärung daran selbst engagiert teilnimmt. Er kann dazu beitragen, das wirklich werden zu lassen, was er in weltbürgerlicher Hinsicht am Leitfaden der Vernunft entdeckt hat. Er kann sich selbst als Teil einer vernünftigen Entwicklung verstehen, die erst durch ihn ihre eigene Sprache und ihr anzustrebendes Ziel findet.
IV. Immanuel Kants philosophischer Entwurf „Zum ewigen Frieden“. In den 1790er Jahren erschienen in rascher Folge Kants rechts- und staatspolitische Schriften. Sie wurden lange Zeit nur wenig beachtet.Erst im Zuge einer Aufwertung der praktischen Philosophie, die gleichwertig neben Kants Arbeit an den Grundlagen einer reinen theoretischen Vernunft rückte, vollzog sich eine Neubewertung, die Kants späte Schriften als Gründungstexte für einen modernen freiheitlichen Verfassungsstaat und ein internationales, rechtlich geregeltes Staatengeflecht hochschätzen lassen.
Während Kant verstärkt über Krieg und Frieden, eine staatsbürgerliche Ordnung und weltbürgerliche Verfassung nachdachte, befand sich Europa im Krieg. Das monarchistische Bündnis zwischen Preußen und Österreich gegen das revolutionäre Frankreich führte 1792 zu einem Ersten Koalitionskrieg, in den bald auch andere europäische Staaten verstrickt wurden.
Länger als zwanzig Jahre sollten die Koalitionskriege dauern, allerdings nicht für Preußen, das am 5. April 1795 in Basel einen Sonderfrieden mit Frankreich schloss, der bis 1806 hielt. Unter dem Eindruck dieses Friedens schrieb Kant seinen philosophischen Entwurf Zum ewigen Frieden, der gegen Ende des Jahres 1795 erschien und ein durchschlagender publizistischer Erfolg war. Er führte vertraglich-gesetzmäßig die Gedanken weiter aus, die Kant 1784 in seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Hinsicht entwickelt hatte.
Vor dem Gerichtshof einer kritischen Vernunft verhandelte Kant den großen menschheitsgeschichtlichen Fall: Unter welchen Bedingungen kann die Aufgabe gelöst werden, zwischen den Staaten und Völkern einen Frieden zu schaffen, der nicht nur ein vorübergehender Waffenstillstand ist, sondern auf Dauer Schluss macht mit diesem ewigen Töten und Getötetwerden, dem die Menschheit als ihrem Schicksal nicht entkommen zu können scheint? Wie kann es ihr gelingen, endlich aus dem Naturzustand ständigen Sich-Bekriegens in einen Friedenszustand fortzuschreiten, der ihnen Freiheit und Sicherheit bietet?
Andere Denker hatten Kant vorgearbeitet. Ihm war das Projekt des französischen Abbé des Saint-Pierre bekannt, der bereits 1712 unter dem fingierten Autorennamen „Jacques le Pacifique“ den 24 christlichen Fürsten und Königen Europas vorgeschlagen hatte, eine gemeinsame „Union Européenne“ zu bilden, da sie doch alle ein Interesse daran haben sollten, in einem dauerhaften Frieden miteinander zu überleben, statt sich in Kriegen gegenseitig zu vernichten. Es waren pragmatische Nützlichkeitserwägungn, die Saint-Pierre zu seinem Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe motivierten. JeanJacques Rousseau hatte 1756 einen Auszug (Extrait) von Saint-Pierres Schrift hergestellt und eine Beurteilung (Jugement sur la Paix Perpetuelle) verfasst, die dem Friedensappell des Abbé eine moralphilosophische Wendung gab. Der Mensch sollte sich endlich aus seiner narzisstischen Eigenliebe (l’amour propre) und Geltungssucht befreien, die immer wieder zu Gewalt und Kriegen führten, und statt dessen wieder zu einer natürlichen Sorge und Liebe zu sich selbst (l’amour de soi-même) zurückkehren. Denn nur so sei es möglich, sein Glück auf Erden zu finden. „Der Idee nach zumindest sehe ich die Menschen in Liebe zueinander vereint; ich denke mir eine sanftmütige und friedliche Gesellschaft von Brüdern, die in ewiger Eintracht miteinander leben, alle denselben Grundsätzen folgen und am gemeinsamen Glück teilhaben.“
Kant wollte jedoch weder wie Saint-Pierre an die Herrschenden appellieren, noch wie Rousseau von allgemeiner menschlicher Friedfertigkeit und Liebesbeziehung träumen. Statt dessen entwarf er als Philosoph für die interstaatlichen Beziehungen eine Rechtsordnung, die eine friedliche Perspektive in weltbürgerlicher Hinsicht ermöglichen soll. Er sprach nicht die Machthaber an, sondern richtete sich an die Vernunftfähigkeit jedes Weltbürgers, der mit anderen friedlich zusammenleben will. Seine Friedensrechtordnung sollte nicht durch eine aristokratische Machtelite von oben durchgesetzt werden. Es sollten die mündigen Menschen selbst sein, die sich für einen gesetzlichen Zustand engagierten, der sie friedlich zusammen leben ließ.
Deshalb entwarf Kant seinen Friedensentwurf wie eine gesetzliche Vertragsschrift, die allgemein als vernünftig anerkannt werden sollte. In drei Definitivartikel skizzierte er die grundlegenden Prinzipien für das Staatsbürgerrecht, das Völkerrecht und das Weltbürgerrecht. Das waren keine Ideen für die Ewigkeit. Sie sollten die Geschichte nicht stillstellen oder beenden. Es waren politisch-juristische Maximen für einen weltumspannenden gesetzlichen Zustand, der Kant zu seiner Zeit bereits als realisierbar erschien, obwohl nur in kontinuierlicher Annäherung. Vor allem die Ereignisse in den 1776 unabhängig gewordenen Vereinigten Staaten von Amerika und im revolutionären Frankreich seit 1789 spielten dabei eine wegweisende Rolle.
Bereits der Erste Definitivartikel geht von einer staatsbürgerlichen Ordnung aus, zu der sich freie und gleiche Menschen durch eine „republikanische Verfassung“ zusammengeschlossen haben. Kant war davon überzeugt, dass die politische Struktur eines jeden Staates, der zum wirklichen Frieden fähig sein kann, republikanisch sein muss, also nicht despotisch durch einen Herrscher und seine Gefolgschaft bestimmt ist. Republikanisch ist das Volk sein eigener Souverän. Es gibt sich selbst die Gesetze, nach denen er regiert werden will, und entscheidet autonom, wie es leben will, wobei es von sich aus eher zum Frieden als zum Krieg neigen wird: „Wenn (wie es in dieser republikanischen Verfassung nicht anders sein kann) die Bestimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, ‚ob Krieg sein solle, oder nicht’, so ist nichts natürlicher, als daß, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müssten, sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen.“
Der Zweite Definitivartikel erweitert die Argumentation auf das Verhältnis zwischen den Staaten. Wie einzelne freie Menschen sich in einem gesetzlich geregelten republikanischen Zusammenhang vereinen, so können auch Staaten miteinander in einer Verbindung zusammenkommen, die ihren kriegerischen Eigensinn unter gemeinsame Kontrolle bringt und einen dauerhaften Frieden begründen kann. „Dies wäre ein Völkerbund, der aber gleichwohl kein Völkerstaat sein müsste.“ Denn Kant fürchtete, dass die Vereinigung aller Staaten unter ein gemeinsames Oberhaupt einen kosmopolitischen Despotismus herbeiführen könne, der die Einzelstaaten und ihre Bürger entmündige. Dagegen entwarf er den rechtlichen Zustand einer staatlichen Verbindung ohne hegemoniale Vormacht: eine Föderation freier, souveräner, republikanischer Staaten, die sich nach einem gemeinschaftlich anerkannten Völkerrecht richten.
Der Dritte Definitivartikel zum ewigen Frieden betrifft das Recht der Weltbürger. Dabei handelt es sich nicht um allgemeine Menschenliebe. Kant argumentierte nicht als Philanthrop. Auch im Hinblick auf alle Bürger in einer gemeinsam bewohnten Welt ging es ihm um eine gesetzliche Regelung. Das Weltbürgerrecht bezieht sich auf das Recht jedes Fremden auf allgemeine, weltweit zu praktizierende Hospitalität (Wirtbarkeit). Niemand soll bei seiner Ankunft und seinem Aufenthalt auf dem Boden eines fremden Landes „feindselig“ behandelt werden, solange er sich selbst friedlich verhält; und niemand soll abgewiesen werden, wenn damit sein Tod oder Untergang verbunden ist. Auch wenn damit ein Asylrecht in besonderen Fällen anerkannt ist, so ist das Weltbürgerrecht doch kein allgemeines Gastrecht. Weltbürger haben nur ein gegenseitig anerkanntes Besuchsrecht, da sich Menschen nun einmal zu bestimmten Staaten oder Gesellschaften in bestimmten Gegenden vereinigt haben und sich nun nicht mehr auf der ganzen Oberfläche der Erde ins Ungegrenzte zerstreuen können, wie es einst zu Zeiten globaler Migrationsbewegungen der Fall gewesen sein mag.
Kant vollzog diese Einschränkung auf das Besuchsrecht im Hinblick auf die Kolonialpolitik europäischer Staaten, die er mit starken Worten kritisierte. Zwar habe ursprünglich niemand weniger Recht, an einem bestimmten Ort der Erde zu sein, als der andere. Aber die europäischen Nationen hätten den Besuch fremder Länder, zu dem sie berechtigt seien, „zum Erschrecken weit“ mit dem Erobern gleichgesetzt. „In Ostindien (Hindustan) brachten sie unter dem Vorwande bloß beabsichtigter Handelsniederlagen fremde Kriegesvölker hinein, mit ihnen aber Unterdrückung der Eingeborenen, Aufwiegelung der verschiedenen Staaten desselben zu weit ausgebreiteten Kriegen, Hungersnot, Aufruhr, Treulosigkeit, und wie die Litanei aller Übel, die das menschliche Geschlecht drücken, weiter lauten mag.“ Um das gesetzlich zu verhindern, soll das Weltbürgerrecht auf „Hospitalität“ begrenzt bleiben.
Kant war sich darüber klar, dass vor allem sein Modell eines Völkerbundes republikanischer Staaten eine problematische Konstruktion war. Denn es fehlte ja jene übergeordnete, vereinheitlichende Gesetzesmacht, die den Bürgern in einer Republik ihr Leben in gesicherter Freiheit ermöglicht. Kant konnte nur darauf vertrauen, dass sich die zu einem Bund vereinigten Staaten verpflichtet fühlen, ihre eigene Staatsräson gegebenenfalls dem gemeinsamen Ziel unterzuordnen, miteinander in Frieden zu leben und ihre Konflikte nur durch Streit, aber nicht durch Krieg zu lösen. Ohne dieses moralische Moment der Pflicht verliert Kants Völkerbund seine verbindende Kraft. Aber das war für Kant kein zwingendes Argument, die philosophisch entworfene Föderation für eine leere Idee halten zu müssen. Stattdessen verband er die moralische Verpflichtung mit einer Hoffnung, die über die bestehenden Verhältnisse hinausweist und den Frieden als eine permanente Aufgabe begreift, „die, nach und nach aufgelöst, ihrem Ziele (weil die Zeiten, in denen gleiche Fortschritte geschehen, hoffentlich immer kürzer werden) beständig näher kommt.“ Wir dürfen hoffen, das die Idee eines ewigen Friedens eine Zielvorgabe ist, deren gesetzliche Kraft ihre Verwirklichung vorantreibt, auch wenn es immer wieder zu Rückschlägen kommt, die an der Vernunft des Menschengeschlechts zweifeln lassen.