Die erste Erwähnung Kants in China geht auf das Jahr 1866 zurück. Damals übersetzte der britische Missionar Joseph Edkins sein Buch „A Brief Description of Western Studies“ ins Chinesische. Im Band „Science“ (womit Philosophie gemeint ist) führte Edkins seine Leser in die Geschichte der westlichen Philosophie ein und erwähnte dabei Philosophen wie Descartes, Bacon, Locke, Newton, Leibniz, Kant, Hume und Spencer.
Im selben Jahr beschäftigte sich auch Kang Youwei, ein wichtiger chinesischer Denker, mit der Nebularhypothese und erwähnte die Kant-Laplace-Theorie im neunten Band seines Buches Zhu Tian Jiang (Über den Himmel). Im Jahr 1903 schrieb der berühmte chinesische Reformer Liang Qichao einen Artikel mit dem Titel „Die Lehre Kants, des größten Philosophen der modernen Welt“ – wahrscheinlich der erste chinesische Artikel, der sich schwerpunktmäßig mit Kants philosophischen Gedanken beschäftigte. Der wichtigste chinesische Gelehrte, der sich in der Neuzeit mit Kant beschäftigte, war Wang Guowei, der sich vor allem mit Kants Erkenntnistheorie, Ethik und Gedanken zur Religion auseinandersetzte. Ein weiterer wichtiger Gelehrter, der sich systematisch mit Kants Philosophie auseinandersetzte und dabei besonderes Augenmerk auf Kants Ästhetik, aber auch auf Kants Erkenntnistheorie und Wissenschaftsauffassung legte, war Cai Yuanpei. Viele Aspekte seines Denkens verkörpern den Geist von Kants Philosophie.
Ab den 1910er Jahren begann sich die Kant-Forschung in China allmählich auszuweiten. Im Jahr 1922 wurde Karl Vorländers Kant-Biographie auf Chinesisch veröffentlicht. Am 22. April 1924, Kants zweihundertstem Geburtstag, wurden mehr als dreißig Forschungsartikeln zum Gedenken an Kant in chinesischen Zeitungen wie Xue Deng und Chen Bao veröffentlicht. Seit den 1930er Jahren wurden schließlich alle Hauptwerke Kants ins Chinesische übersetzt und nacheinander veröffentlicht: Kritik der reinen Vernunft (1935), Kritik der praktischen Vernunft (1936), Grundlegung der Metaphysik der Sitten (1939) und Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1940). Zur gleichen Zeit wurden mehrere wissenschaftliche Werke über Kant ins Chinesische übersetzt, die wichtigsten daraus sind „Kants Dialektik“ des sowjetischen Gelehrten Abram Deborin (1929), „The Philosophy of Immanuel Kant“ des britischen Gelehrten A. D. Lindsay (1935) sowie „Kant und die moderne Philosophie“ des japanischen Gelehrten Genʼyoku Kuwaki (1935). Vor allem ist allerdings hervorzuheben, dass auch die Werke chinesischer Gelehrter über Kant nach und nach veröffentlicht wurden, die berühmtesten sind Fan Shoukangs „Kant“ (1933) und Zheng Xins „A Treatise on Kantology“ (1946).
Nach der Gründung der Volksrepublik China im Jahr 1949 begann für die Kant-Forschung eine neue Periode. Einerseits wurden in Festlandchina mehrere Werke über Kant von sowjetischen und westlichen Wissenschaftlern ins Chinesische übersetzt, wie z.B. V. F. Asmus’ „Kant’s Philosophy“ und A. A. Karapetyan’s „Critical Analysis of Kant’s Philosophy“, J. Watson’s „The Philosophy of Kant explained“ oder N. K. Smith’s „A Commentary to Kant’s ‘Critique of Pure Reason’“. Andererseits wurden neue Übersetzungen von Kants Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der praktischen Vernunft veröffentlicht, ebenso wie die Kritik der Urteilskraft und die Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels. In Taiwan übersetzte Mou Zongsan ebenfalls die Kritik der reinen Vernunft und die Kritik der praktischen Vernunft; inzwischen nutzte er Kants Philosophie auch als Grundlage für seine Interpretation der traditionellen chinesischen Philosophie. Zu erwähnen ist auch Lao Siguangs „The Essential of Kant’s Theory of Knowledge”.
Nach der von Deng Xiaoping eingeleiteten Periode von Reform und Öffnung in den 1980er Jahren begannen die Kant-Studien in Festlandchina zu florieren und avancierten zu einem wichtigen Bereich der philosophischen Forschung in China. Kants Hauptwerke wurden nach und nach neu übersetzt zu werden. Han Shuifa übersetzte als erster die Kritik der praktischen Vernunft neu, gefolgt von Deng Xiaomangs Übersetzung der Drei Kritiken, und Li Qiulin leitete die chinesische Übersetzung der ersten neun Bände der Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften von Kants Gesamtwerk. Gleichzeitig entstehen auch immer wieder neue Werke chinesischer Gelehrter zu Kant. Der Einfluss der Kant-Forschung und des Kant’schen Denkens geht dabei weit über den Bereich der Philosophie hinaus und erstreckt sich auf viele Bereiche der Wissenschaft und Kultur. Zugleich ist Kant für viele Chinesen die bekannteste deutsche Kulturpersönlichkeit geworden.
Heutzutage bietet fast jede philosophische Fakultät in China Kurse zu Kant an. An den renommiertesten chinesischen Universitäten wie der Peking University, der Fudan University, der Renmin University of China und der Tsinghua University sind Vorlesungen und Seminare zu Kant sogar eine feste Einrichtung. In den letzten Jahren wurden durchschnittlich über 140 Arbeiten zu Kant-Studien jährlich in chinesischen Fachzeitschriften veröffentlicht. Im Jahr 2019 richtete die Peking University eine große und hochrangige internationale Konferenz über Kant aus, an der die international renommiertesten Kant-Wissenschaftler teilnahmen. Zudem wurde die „Chinesische Kant-Gesellschaft“ gegründet, deren Sekretariat an der Philosophischen Fakultät der Peking University angesiedelt ist. Mit dem Heranwachsen einer neuen Generation von Kant-Forschern steht der Philosophie Immanuel Kants in China somit eine blühende Zukunft bevor.
30. März 2021
Professor Han Shuifa, Philosophische Fakultät der Peking University
Übersetzt von Magnus Obermann (Master of Laws Peking University 2019-20)