Meine Damen und Herren!
Ich bin zutiefst gerührt, das ich heute einem der größten Philosophen der Geschichte des Denkens Ehre erweisen darf, dem Genie, das die kulturelle Solidarität Europas begründet hat, die wir noch heute weiter fortzuführen wünschen. Kant war ein Theoretiker unserer modernen Geschichte, als er in seinem Werk „Der Streit der Fakultäten“ die Meinung vertrat, der Sinn der französischen Revolution gehöre nicht allein den Franzosen, sondern er werde durch die moralische Zustimmung der benachbarten Völker offenbart. Diese internationalistische Vorstellung von den europäischen Völkern (man würde heute sagen: eine interaktive Vorstellung der europäischen Völker) ist gerade in der Gegenwartsnähe der Philosophie Kants besonders lebendig. Dafür will ich zwei Beweise anführen.
Ein Beweis aus der Vergangenheit: Erinnern wir uns kurz daran, wie Kant (nicht Kant selbst, sondern sein Werk) von Königsberg nach Paris « gekommen » ist. Im Jahre 1796 erhielten die Franzosen nur durch einige Ausschnitte Kenntnis von dem Werk „Zum ewigen Frieden“, aber sie ehrten Kant voller Begeisterung als einen Revolutionär in der Philosophie und einen Republikaner in der Politik. Man träumte davon, dass sich Sieyès, der Politiker vom Mittelmeer, und Kant, der Philosoph des Nordens, verbünden könnten. Ein Bewunderer beider Männer schrieb damals: „Die Freunde der Wahrheit werden mit Freude erfahren, dass der Bürger von Fréjus und der Philosoph von Königsberg eine fortlaufende Gedankenkette geschaffen haben, die von den Küsten des Mittelmeers bis zu den Ufern der Ostsee reicht.“
Ein Beweis von heute: Wenn sich heute ein bescheidener Schüler Kants auf den umgekehrten Weg begibt, der von Paris nach Königsberg führt, dann kann er auf die Vielzahl der Fachgebiete, die von der Philosophie Kants geschaffen worden sind, und auf ihre andauernde Fruchtbarkeit Bezug nehmen. Mit Engländern hat er über Kants Moral debattiert, mit Russen hat er über seine Philosophie der Wissenschaft diskutiert, mit Chinesen hat er seine Kulturphilosophie untersucht, mit Deutschen seine Anthropologie erforscht, mit Ukrainern seine Politik analysiert, usw. usw. Man spricht heute nicht von der Freiheit, von der Natur, von der Erziehung oder der menschlichen Subjektivität, ohne durch den kritischen Augenblick der Philosophie Kants zu gehen. Auf diese Weise kreuzen die Wege der Philosophie immer wieder die Straße nach Königsberg. Nach mir, nach uns werden andere Kantianer kommen, um an seinem Grab von dem unübersehbaren geistigen Erbe Immanuel Kants Zeugnis abzulegen, „denn der Geist allein ist unsterblich“ (Husserl).
© Prof. Monique Castillo