Sehr geehrte Frau Tariverdieva, sehr geehrte Frau Professor Kusnezowa, sehr geehrter Herr Professor Kruglov, sehr geehrter Herr Generalkonsul Dr. Banzhaf, sehr geehrte Damen und Herren aus Kaliningrad – ich freue mich, dass ich im Namen meiner Familie von Schrötter besonders viele Einwohner aus dem nun russischen Kaliningrad begrüßen darf – und sehr geehrte, liebe „Freunde Kants und Königsbergs“.
Wir sind vor wenigen Tagen in Wohnsdorf, Kurortnoje , an dem Turm der alten Ordensburg gewesen, in der Kant nachweislich öfters bei meinen Vorfahren zu Besuch war. Und wir wissen, dass meine Vorfahren ab und zu auch zu Gast bei Kants Tischgesellschaft waren, die auf diesem Gemälde des Künstlers Doerstling abgebildet ist. Und wir wissen auch, dass Kant sehr häufig die Tischgesellschaften meiner Familie besucht hat. Aber ich denke, das ist nur eine Fußnote der Geschichte.
Viel wichtiger ist, welche Spuren Kant nicht nur im Denken, sondern auch in der Politik und Gesellschaft Preußens hinterlassen hat. Kant selbst hat gesagt „das Zeitalter der Aufklärung ist kein aufgeklärtes Zeitalter“. Als Kant junger Dozent hier an der Universität in Königsberg war, war diese Gesellschaft nur eine klar untereinander getrennte Ständegesellschaft. Frischen Wind brachte Russland mit in die Stadt, als Königsberg 1758 für wenige Jahre russisch wurde. Die vor allem aus dem Baltikum stammenden russischen Offiziere waren es von Hause aus gewöhnt, sich auch mit anderen Gesellschaftsschichten, mit gebildeten Bürgern, zu treffen und auszutauschen. Und so kam in die ständische, etwas pietistische Gesellschaft Königsbergs dieser frische Wind, der dann die nächsten Jahre anhielt. Das Bürgertum Königsbergs und seiner Umgebung wurde selbstbewusst. Aus ihren Kreisen stammt der berühmte Satz gegenüber dem Adel „Man lasse ihnen das ‚von‘ und uns den Verstand“. Aber der Adel der Generation Kants war sehr lernfähig und das ist das entscheidende. Kant hat eine ganze Generation von jungen Adligen Ostpreußens geprägt, die dann maßgeblich für die preußische Geschichte waren, konkret für die wegweisende Reformpolitik um 1800 herum. Und hier kommen diese zwei hier abgebildeten Personen ins Gespräch, die Gebrüder Schrötter, der ältere Friedrich Leopold, ich sage einfach Schrötter 1 und der jüngere Carl Wilhelm, ich sage einfach Schrötter 2 – warum werden wir gleich sehen. Sie hatten zwei historische Chancen, um aus diesem feudalen, verkrusteten altmodischen Preußen einen modernen Staat Preußen zu machen. Und sie ergriffen diese Chancen und das möchte ich ganz kurz zeigen.
Die erste Chance kam, als gegen Ende des 18. Jahrhundert die Verbündeten Russland und Preußen Polen untereinander aufteilten. Große Teile Polens fielen als Folge dieses russisch-preußischen Handels an Preußen. Friedrich Leopold – Schrötter 1- wurde 1791 nicht nur verantwortlich für die Verwaltung Ostpreußens, sondern auch für das 1772 neu gewonnene Westpreußen; 1796 dann auch noch zusätzlich für das kurz zuvor gewonnene Neuostpreußen, das Gebiet um Bialystok herum. Carl Wilhelm – Schrötter 2 – wurde 1803 Kanzler des Königreichs Preußens. Beide Brüder setzten in den von ihnen zu verantwortenden Gebieten einige Grundgedanken von Kant in die Tat um. Das war erstens eine völlige und scharfe Trennung zwischen Verwaltung und Justiz, damit wurde der Kantsche Grundsatz der Gewaltenteilung erstmalig auf preußischem Gebiet umgesetzt. Zweitens leiteten sie in „ihren“ Gebieten den Beginn der Abschaffung der Leibeigenschaft ein. Kant selbst hatte diese Leibeigenschaft als Absurdität, als Sünde des Despotismus gegeißelt. Und diesen scharfen Tadel Kants nahmen die Brüder Schrötter auf, Friedrich Leopold – Schrötter 1 – wird in der Geschichtsschreibung gar als „Bauernbefreier“ bezeichnet.
Die zweite Chance kam, als Preußen am Boden lag, 1806. Preußen war von Napoleon militärisch vernichtend geschlagen worden. Die letzte Hoffnung Preußens war sein Verbündeter Russland. Wir waren in Friedland und haben vor dem dortigen Mahnmal für die russischen Gefallenen gestanden. Mit der Niederlage Russlands in der Schlacht von Friedland war auch diese Hoffnung Preußens, dass Russland Preußen helfen kann, erloschen. Die führenden Männer Preußens sagten sich nun, wenn wir nicht mehr militärischen Widerstand leisten können, dann brauchen wir einen modernen Staat, der handlungsfähig ist, wenn die Stunde kommt. Und so schlugen sie vor, alle positiven Erfahrungen, die durch die Schrötterschen Reformen in den neuen preußischen Provinzen Westpreußen, Südostpreußen, aber auch in Ostpreußen selbst gewonnen worden waren, auf ganz Preußen zu übertragen. Ich will nicht alle umfassenden Reformmaßnahmen erwähnen, sondern vor allem noch ein Mal hervorheben die Trennung von Verwaltung und Justiz, die unabhängige Rechtssprechung und die Abschaffung der Leibeigenschaft. Im August 1807 verfasste Friedrich Leopold von Schrötter eine große Reformdenkschrift und im Oktober wurde diese bereits als Gesetz erlassen und danach schnell in die Praxis umgesetzt. Dieses Reformedikt ist das zentrale Dokument einer historischen Phase, die wir in Deutschland als die der preußischen Reformen betrachten. Es ist nicht nur die Leibeigenschaft, die aufgehoben wurde, es ist der Feudalismus, der überwunden wurde. Die Schranken zwischen den Ständen wurden aufgehoben, jeder konnte jetzt Land erwerben, jeder Bauer konnte jetzt jedes Gewerbe betreiben, das war ein ganz revolutionärer Entscheid. Die entscheidende politische Persönlichkeit war damals der Ministerpräsident Stein, aber Friedrich Leopold war der Dienstältere der beiden und Stein sagte: „Schrötter, du unterschreibst das Gesetz als erster, ich als zweiter und du, Carl Wilhelm von Schrötter auch noch“. Denn dieser war gerade stellvertretender Justizminister, weil zu dieser Zeit dieses Amt vakant war. Deswegen die Unterschriften Schrötter, Stein, Schrötter 2, deshalb Friedrich Leopold Schrötter 1 und Carl Wilhelm Schrötter 2.
Ich möchte mit zwei rhetorischen Fragen enden, die kurz auf den Unterschied zwischen der deutschen preußischen und russischen Geschichte hinweisen. Wie wäre die Geschichte Russlands verlaufen, wenn Russland unter Alexander I. ein breites aufklärerisch gesinntes Bürgertum gehabt hätte? Wie wäre die
Geschichte Russlands verlaufen, wenn der Geist von Kant zu Zeiten sowohl von Alexander I. wie von Alexander II. schon so bedeutsam gewesen wäre, dass das Bürgertum und die Intelligentsia den Adel für entscheidende politische und gesellschaftliche Reformen hätten gewinnen können ?
Vielen Dank!