Kunst

Immanuel Kant in Werken der modernen Kunst

Foto des Autors: © BKGE

von Prof. Dr. Matthias Weber, Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Oldenburg (BKGE)

Ausgangspunkte dieses Vortrags sind moderne Kunstwerke, die vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart entstanden sind. Betrachtet werden sollen Werke, die die Person Kant oder dessen Werk aufgreifen. Es geht dabei um konkrete Bezugnahmen auf Kant in den Titelgebungen und/oder Motiven und um die mit den Ausdrucksformen und Mitteln der Kunst stattfindende künstlerische Auseinandersetzung    mit    Kant, also   um    dessen       ‚künstlerische Kommentierung’.

Betrachtet werden soll, wie sich Künstlerinnen und Künstler zu Kant positionieren, warum sie sich mit Kant befassen, welche Urteile und Wertungen sie dabei transportieren sowie ob und welche traditionellen oder neuen Aspekte des Kantverständnisses eröffnet werden.

Erste Recherchen in Katalogen von Museen und Kunstsammlungen haben zahlreiche diesbezüglich relevante Funde ergeben. International renommierte ebenso wie weniger bekannte Künstlerinnen und Künstler haben sich mit Immanuel Kant auseinandergesetzt und tun dies bis heute – ihre Arbeiten sind in Museen weltweit vertreten. Meines Wissens ist das hier beschriebene Thema moderner künstlerischer Rezeption in übergreifender Perspektive bisher noch weitgehend unbearbeitet geblieben.

Aus der inzwischen etwa 120 Kunstwerke umfassenden Sammlung von auf Kant bezogenen Abbildungen habe ich einige anschauliche Beispiele ausgewählt. Ich hoffe auf Ihre Freude an ungewohnten Perspektiven und darauf, dass ich Ihnen etwas Neues oder doch wenigstens etwas Interessantes bieten kann. Die zum tieferen Verständnis eines jeden gezeigten Kunstwerks notwendige Reflexionsgeschichte muss hier weitgehend ausgeklammert bleibend; es seien stellvertretend nur die grundlegenden Publikationen von Reinhard Brandt und von Mark A. Cheetham erwähnen, durch die ich auf das Thema aufmerksam wurde. Ich möchte ab jetzt mehr die Kunst sprechen lassen und anhand einiger konkreter Beispiele über die Möglichkeiten und Grenzen der Deutung Immanuel Kants durch die moderne Kunst sprechen.

Reinhard Brand: Die Wirklichkeit des Bildes. Sehen und Erkennen – vom Spiegel zum Kunstbild. Wien 1999; Reinhard Brand: Philosophie in Bildern. Von Giorgione bis Magritte. Köln 2000.

Mark A. Cheetham: Kant, Art and Art History. Moments of discipline. Cambridge 2001.

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Variationen der „reinen Vernunft“ – Jack Levine, René Magritte, Joseph Beuys, Bernhard Blume

Die 1781 veröffentlichte „Kritik der reinen Vernunft“ ist wahrscheinlich das bekannteste philosophische Werk in deutscher Sprache überhaupt. Das hier behandelte Problem von Selbst- und Welterkenntnis wurde in der Kunst häufiger als andere Themen Kants aufgegriffen. Dazu vier Beispiele:

Jack Levine: „The Feast of pure Reason“ („Das Fest der reinen Vernunft“), Ölgemälde, 1937: Vereinigte Staaten von Amerika, 1930er Jahre

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Der Maler Jack Levine (1915-2010) war ein Vertreter der us-amerikanischen „Social Realist School“, der in seinen Arbeiten gesellschaftliche Ungerechtigkeit thematisierte. Levine arbeitete in den Slums von Boston, wo er vor allem sozialkritische Kunst schuf, offensichtlich inspiriert von deutschen Malern wir Otto Dix und George Grosz.

„The Feast of Pure Reason“ zählt zu seinen bekanntesten Werken überhaupt – es ist typisch für Levines gesellschaftskritische Perspektive – weshalb der Filmemacher und Regisseur David Sutherland seinem 1989 produzierten Dokumentarfilm über Levines Schaffen ebenfalls den Titel „Feast of Pure Reason” gab.

Ein Polizist, eine Person aus der „Unterwelt“, möglicherweise ein Politiker, und ein wohlhabender Gentleman im Anzug mit Zigarre und Spazierstock sitzen rauchend und trinkend in komfortabler Runde zusammen; der Whisky scheint teuer, die Atmosphäre ist verrucht, die Charaktere abstoßend. Die Aussage ist klar: Hier konspirieren die Repräsentanten der Ausbeuter und machen vertrauliche Geschäfte auf Kosten der kleinen Leute.

Der Titel „Fest der reinen Vernunft“ kann nur sarkastisch gemeint sein; das Bild ist eine bittere Satire: Die Dargestellten feiern ein ironisches Fest ihres Wohlstandes und schaffen dabei nach ihren eigenen unmoralischen Prinzipien Ordnung in ihrer Welt. Es ist ein Fest, das auf zynische Weise die „Vernunft“ dieser Gruppe repräsentiert, die das Gegenteil der Moral im Sinne Kants darstellt. So wird die damalige von Korruption geprägte Realität in den Armenvierteln von Boston mit Kants aufklärerischen Ideen zum Zweck der Gesellschaftskritik kontrastiert und Aufklärung als gesellschaftliches Postulat ins Spiel gebracht, als deutliche Warnung davor, dass nicht die Gegenaufklärung die Oberhand gewinnen möge.

René Magritte: „La Raison Pure“ („Die reine Vernunft“), Gouache, 1948:6

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Der belgische Surrealist Rene Magritte (1898-1967) versuchte durch seine Bilder philosophische Aussagen zu vermitteln und wollte Zeit seines Lebens seine Malerei der Sprache ebenbürtig machen. Magritte setzte sich intensiv mit zeitgenössischer Philosophie ebenso wie mit der Aufklärung (z. B. auch in „Le siècle de Lumière“, 1967) auseinander.

Oft malte er, was ihm intuitiv wichtig schien, ohne weitere Erklärungen, und schuf so rätselhafte, poetische und mysteriöse Bilder. Deren Einzelmotive sind leicht zu beschreiben, aber deren Zusammenhang bleibt oft unklar – so auch in der surrealistischen Allegorie „La Raison Pure“: Man sieht alles, aber versteht nichts – und wird so mit einem erkenntnis-psychologischen Problem konfrontiert.

Was ist zu sehen? Ein mit prächtiger Mähne versehener Pferdekopf im Vordergrund vor einem Vorhang; vor einem statischen blauen EinblattBaumwald befindet sich ein kleiner Reiter im Hintergrund. Das Bild ist, typisch Magritte, collagenhaft aus Motiven von anderen Werken zusammengesetzt. Über ein ähnliches Pferdeporträt („Le meteore“, 1944) schrieb er, dass es als Ersatz für das menschliche Antlitz „eine starke Ausstrahlung des Lebens“ bedeute und im Gegensatz „zu Politikern oder Tyrannen“ zu sehen sei. Es geht offenbar um das Agieren des TierMenschen in einer statisch-unwirklichen, theaterartigen Welt (R. Prange).

Vieles ist märchenhaft: der Wald, der Reiter, der überaus menschliche Pferdekopf mit dem wallenden Haar der Mähne, aber eine schlüssige Erklärung lässt sich nicht ableiten, auch nicht in Kombination mit dem Titel „La raison pure“. Doch hat Magritte die Titel seiner Bilder sorgfältig gewählt und verschiedentlich betont, dass der Titel „dem Gefühl, das wir beim Betrachten empfinden, entspricht“.

Damit kommt man der Sache etwas näher: Die märchenhafttranszendierenden Motive sollen in Verbindung mit dem Kant-Zitat überraschen, zum selbstständigen Nachdenken veranlassen, ein Gefühl erzeugen. Der Betrachter muss sich selbst mit dem Bild auseinandersetzen, um für sich die Erkenntnis durch die Betrachtung zu erarbeiten – ganz im Sinne Kants und für Magritte keineswegs untypisch.

Joseph Beuys: „Ich kenne kein Weekend“; Auflagenobjekt 1971/72:7 Deutschland 1970: https://www.bkge.de/Projekte/Kant/matthiasweber/Beuys_Joseph.php

Joseph Beuys (1921-1986), seine systemkritischen, provozierenden Arbeiten und seine „Aktionskunst“ der 1970er Jahre sind vielen noch ein Begriff. Sicher erinnern sich auch manche noch an die Skandaldebatten, als Beuys im Jahr 1972 vom Minister für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen Johannes Rau aus der Kunstakademie Düsseldorf, wo er eine Professur innehatte, entfernt wurde, weil Beuys zusammen mit Studierenden das Sekretariat der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf besetzt hatte, um jedem, der wollte, das Kunststudium zu ermöglichen; – heute gilt Beuys als einer der einflussreichsten deutschen Künstler der Nachkriegszeit (trotz der einschränkenden Hinweise in der Biographie von Hans Peter Riegel auf sein „rechtes“ und „völkisches“ Gedankengut). Mit seiner „Theorie der Sozialen Plastik“ wollte Beuys die Kunst in den Alltag integrieren. Sein Diktum „Jeder Mensch ein Künstler“ ruft jedermann zur schöpferischen Tätigkeit zur Veränderung der Gesellschaft auf.

Gezeigt wird eine Reclam-Ausgabe der „Kritik der reinen Vernunft“, die zusammen mit einer Maggi-Flasche in den Deckel eines Aktenkoffers montiert ist. Die Reclam-Ausgabe ist rot bestempelt mit den Worten „B E U Y S: ich kenne kein Weekend“. Weitere aus der „Fluxus-Bewegung” der 1960er Jahre stammende Künstler (Sigmar Polke u.a.) haben graphische Arbeiten beigetragen, die im unteren Teil des Koffers liegen. Der WeekendKoffer wurde von dem Berliner Galeristen und Kunst-Sammler Renè Block 1972 als sog. Auflagenobjekt („Multiple“) herausgebracht.

Vom Künstler selbst existieren keine Erläuterungen, weshalb über die Aussage des sehr bekannten „Weekend Koffers“ viel spekuliert wurde. Was lässt sich sagen?

2015/16 wurde in Berlin die Ausstellung „Ich kenne kein Weekend.

Aus René Blocks Archiv und Sammlung“ gezeigt. Block sagte damals in einem Interview: „Als kreative Menschen brauchen wir kein Wochenende. Man kann ja nicht Kreativität am Freitag abstellen und am Montag früh fange ich wieder mit irgendetwas an. Das ist ja ein durchlaufender Prozess“. Soviel zum Thema „Weekend“.

Durch die Auswahl und gleichrangige Anordnung der beiden in etwa gleich großen Alltags-Objekte (Maggi-Flasche und Reclam-Ausgabe) in einem Alltags-Aktenkoffer sowie durch den Farbzusammenhang rot-gelb erzeugt Beuys eine Wechselbeziehung zwischen den Gegenständen. Wahrscheinlich deutet er damit an, dass die Vernunft im Sinne Kants – eingebettet in den kreativen künstlerischen Prozess am Wochenende – so alltäglich und selbstverständlich werden sollte, wie das Maggi-Gewürz, was auch der Theorie der Sozialen Plastik nahestehen würde. Und eines ist nicht zu vergessen: Ein Schuss Humor ist bei Beuys nicht ungewöhnlich.

Bernhard Johannes Blume: „Kant zuliebe – Die reine Vernunft ist als reine Vernunft ungenießbar“, vier Fotographien und Textblatt, 1981:

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Blume (1937-2011) war ein Neo-Dadaist, Zeichner, Fotograf, Maler und Aktionskünstler, der sich in Fotosequenzen, aber auch in Essay- und sogar Buchform mit der Philosophie Kants und den Möglichkeiten ihrer Visualisierung sehr ernsthaft auseinandersetzte. In der exemplarisch ausgewählten Fotosequenz nimmt Blume auf seine Weise eine Kritik der reinen Vernunft vor.

Leitmotiv ist ein undefinierbarer weißer Quader, mit dem Blume selbst verschiedene Aktionen anstellt. Es sei jetzt schon verraten, dass dieser die Visualisierung der reinen Vernunft darstellen soll:

  • Zunächst verdeckt Blume sein Gesicht mit dem Quader. Er schlüpft in die Rolle des Kleinbürgers mit kleinkariertem Hemd und inszeniert die    Begegnung    der    reinen    Vernunft    mit    der    „alltäglichen Erfahrungswelt“.
  • Dann nimmt er das Ding unter die Lupe, aber die beiden weißen Quader verdecken das irritierte Gesicht, das sich zur Grimasse verzieht.
  • In der dritten Aufnahme versucht er, sich das eckige Gebilde in den Mund zu stecken um es zu essen oder oral zu erkunden. Doch das Ganze ist zu kantig und offenbar ungenießbar.
  • Wie ein Hund seinen Knochen schüttelt sich Blume offenbar um das ungenießbare Etwas wieder loszuwerden.
  • Der Schriftzug am Ende der Sequenz ist die Erkenntnis daraus: „Die reine Vernunft ist als reine Vernunft ungenießbar“.

Die „reine Vernunft“ wird also der sinnlichen Erfahrung ausgesetzt, die im Sinne Kants für die Selbst- und Welterkenntnis unverzichtbar ist. Doch Abstraktes und Konkretes lassen sich – so das Fazit aus der Sequenz – nun einmal nicht vereinen, genauso wenig wie die reine Vernunft und die menschlichen Sinne auf den Fotos. Mit seiner fotographischen Versuchsanordnung „beweist“ Blume also diese Unvereinbarkeit der Sinne („Genießen“) mit der „reinen Vernunft“. Sicher schließt auch diese Art der Erkenntniskritik ein humorvolles Augenzwinkern ein.

Nach diesen künstlerischen Visualisierungsversuchen erkenntnistheoretischer Probleme mit durchaus unterschiedlichem Tiefgang kommen wir zum zweiten Kapitel.

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Das Labyrinth der deutschen Geschichte  und der „bestirnte Himmel“ – Anselm Kiefer

Anselm Kiefer (*1945) ist zur Zeit einer der weltweit erfolgreichsten deutschen Künstler, der kürzlich sogar als „größter Metaphysiker unserer Zeit“ (Hoerschelmann) bezeichnet wurde. Kiefer setzt sich reflektiert mit der deutschen Vergangenheit und ihren Auswirkungen auf die gegenwärtige Identität auseinander. Seine Werk-Ensembles entwickeln sich über viele Jahre, wobei sich die Themen und Motive in immer neuen Arrangements wiederholen und zu einem Netz verweben. Der französische Kunsthistoriker Daniel Arasse spricht von einem „Labyrinth“ des Kieferschen Oevres, das sich in einem Prozess aus Kreuzung und Überarbeitung von Themen, Motiven und Konstellationen“ entwickle.

Es ist vor allem das Motiv des „bestirnten Himmels“, das sich bei Kiefer über Jahrzehnte hinweg immer wiederfindet. Es geht auf den „Beschluß“ der „Kritik der praktischen Vernunft“ (Riga 1788) zurück, der eines der wohl bekanntesten Zitate Immanuel Kants enthält: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüth mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Ich sehe sie beide vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewusstsein meiner Existenz“ (Kritik der praktischen Vernunft, 1788. Kapitel 34)

1969/70 schuf Kiefer eine größere Anzahl von Gemälden und Fotografien („Besetzungen“ und „Heroische Sinnbilder“), in denen er sich selbst in unterschiedlichsten, teils absurden Posen mit zum Hitlergruß erhobenem Arm zeigte. Damals war das Thema Nationalsozialismus wissenschaftlich und gesellschaftlich noch kaum bearbeitet – Kiefer beging also einen unerhörten Tabubruch, bei dem er sich am moralisch-politischen Abgrund entlangbewegte. Indem er so die Grenzen gesellschaftlicher Akzeptanz auslotete, ging es ihm um das Nachwirken der unvorstellbaren Verbrechen – aber natürlich war das auch eine Provokation. Kiefer hat mehrere dieser Fotos 1980 mit Acryl und Emulsion überarbeitet und dabei den Sternenhimmel mit dem Kant-Zitat „Über uns der gestirnte Himmel, in uns das moralische Gesetz“ hinzugefügt, außerdem eine stilisierte ausstrahlende Malerpalette auf der Brust des Künstlers. Die zum Hitlergruß erhobene rechte Hand ist teils verdeckt, zusätzliche Motive sind am unteren Bildrand zu sehen: es steht hier die Schlange Nidhögg aus der nordgermanischen Mythologie, die an den Wurzeln des Lebensbaums Yggdrasil nagt für die existentielle Dimension des künstlerischen Schaffens.

Anselm Kiefer: Der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir, Holzschnitt, 1997

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1997 übertrug Kiefer das Motiv des „bestirnten Himmels“ in ein erweitertes, jetzt metaphysisches Bedeutungsfeld, weniger plakativ, eher kontemplativ. Hier zeigt sich der Künstler jetzt liegend unter dem Sternenhimmel, offenbar in harmonischer Beziehung zum Universum, mit dem ihn ein hauchdünner Strahl verbindet – offenbar ein Aufgreifen des Schlusssatz des Zitats: „Ich sehe sie beide [bestirnter Himmel und moralisches Gesetz] vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewusstsein meiner Existenz“. Der unter dem Sternenhimmel liegende oder mit dem Sternenhimmel in Verbindung tretende Künstler kommt in zahlreichen weiteren Werken Kiefers vor (z. B. „Die berühmten Orden der Nacht“, 1997; „Sternenfall, 1995), die durch die Variation der Titel neu kontextualisiert werden, sich letztlich aber auf Kant beziehen. Kiefer verbindet hier die äußere, erfahrbare Welt (Himmel) mit der Moral und der inneren Natur und führt sie im menschlichen Bewusstsein zusammen. So versinnbildlicht Kiefer die harmonische Beziehung des Künstlers zum Universum, offenbar fest daran glaubend, dass jeder Mensch eine Verbindung zwischen dem Makro- und dem Mikrokosmos bildet. Hier werden die ohnehin nur fragmentarischen Ausführungen zu Anselm Kiefer mit dem Hinweis abgebrochen, dass Kants Motiv des „bestirnten Himmels“ und darüber hinaus Immanuel Kant überhaupt wichtige Inspirationsquellen für dessen Werk darstellen.

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Postkoloniale Kritik am „Jahrhundert der Aufklärung“  – Yinka Shonibare

Yinka Shonibare: „The Age of Enlightenment“ – Immanuel Kant u.a., lebensgroße Fiberglasfiguren, 2008 und 2016:

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Ebenfalls eine historische Dimension hat der aus sechs Figuren bestehende Zyklus „The Age of Enlightenment“ des britisch-nigerianischen Künstlers Yinka Shonibare, der 1962 in London geboren wurde, dann in Lagos aufgewachsen ist und ab 1980 in London studiert hat. Die Arbeiten dieses inzwischen vielfach ausgezeichneten Künstlers werden in Ausstellungen weltweit gezeigt. Darunter befindet sich auch die Kant-Figur, an einem Schreibtisch sitzend und schreibend, ganz im Stil eines Gelehrten des 18. Jahrhunderts gekleidet (Jacke, Weste, Kniehosen, lange Strümpfe), nur dass die Muster und Farben der Kleidung auffällig sind – und: Kant hat keinen Kopf.

Die 2008 aus fünf Figuren von Schlüsselpersönlichkeiten der Aufklärung bestehende Gruppe „Age of Enlightenment“ zeigte: Immanuel Kant (†1804), den Mathematiker und Philosophen Jean-Baptiste le Rond d’Alembert (†1783), den Begründer der klassischen Nationalökonomie Adam Smith (†1790), die Physikerin Gabrielle Émilie Le Tonnelier (†1749) und den Mitbegründer der Chemie Antoine Lavoisier (†1794). 2016 wurde noch eine Voltaire-Figur (†1778) hinzugefügt.

Alle Figuren sind zwar kopflos aber gleichwohl dynamisch und gelehrt-geschäftig (lesend, schreibend, dozierend, vor dem Bücherschrank usw.) dargestellt. Überwiegend sind sie mit körperlichen Gebrechen versehen, ihre Hautfarbe ist braun, ihre Kleidung scheint afrikanisch.

Man versteht den Enlightenment-Zyklus am besten zusammen mit einer vergleichbaren Figuren-Installation Shonibares von 2003 mit dem Titel „Scramble for Africa“ („Wettlauf um Afrika“), der die ebenfalls kopflosen Unterhändler der Kolonialmächte darstellt, wie sie 1884 die systematische Ausraubung Afrikas planten und damit, so die Botschaft, die Verantwortung für dessen heutigen Zustand tragen. Dazu sagte Shonibare: „Damals fassten 14 europäische Staaten… einen Beschluss, Afrika untereinander aufzuteilen, ohne sich um das, was die Afrikaner selbst wollten, zu kümmern… Deshalb habe ich diese Menschen als kopflose, als hirnlose Menschen dargestellt. Ich habe auch eine Art witzige Anspielung auf die Französische Revolution eingebaut, wo ja auch die Aristokraten mit der Guillotine geköpft worden sind.“

„Scramble for Africa“ wurde 2010 auf der Empore der von Karl Friedrich Schinkel erbauten Friedrichswerderschen Kirche gezeigt – im Kirchenraum darunter kaum zufällig die Büsten von Kant, Winckelmann, Goethe und den Gebrüdern Humboldt (Grill). Auf den Enlightenment-Zyklus übertragen bedeutet dies: Die kopflosen Aufklärer sind geistige Wegbereiter des Kolonialismus. Shonibare erinnert daran, dass die Aufklärer im 19. Jahrhundert herangezogen wurden, um die koloniale Eroberung Afrikas argumentativ zu legitimieren. Die kanadische Ausstellungskuratorin Cheryl Sim (Art Foundation, Montreal) betonte diesbezüglich: „…gerade Kants Ideen wurden verwendet, um die kolonialen Eroberungen des 19. Jahrhunderts als Missionen zu zivilisieren und rückwärts gerichtete Völker zu erleuchten“. Vereinfacht ausgedrückt: Die Installation „Scramble for Africa“ kritisiert die materielle, die Figurengrupe „Age of Enlightenment“ die intellektuell legitimierende Ebene des Unrechts, das Europa an und in Afrika begangen hat. 

Durch die entgegen der chronologischen Plausibilität vorgenommene Bekleidung der Aufklärer, deren Stil eben nicht afrikanisch, sondern ein späteres Produkt des Kolonialismus ist, kehrt Shonibare die Geschichte gewissermaßen um und verweist ebenfalls auf die imperiale Ausbeutung und die moralische Involvierung der Aufklärung. Warum aber die merkwürdigen Behinderungen? Hierzu Shonibare, der selbst an den Rollstuhl gebunden ist: „Indem ich [den Figuren] Behinderungen gebe… wollte ich diese auch als Mittel nutzen, um zu zeigen, wie diese Figuren, die mitverantwortlich für die Definition von ‚Andersartigkeit‘ im Kontext der Aufklärung waren, ebenfalls durch ihre Behinderung selbst zu den Andersartigen gehörten“. Shonibare versteht seine Werke nicht als Protestkunst der Unterdrückten gegen die Ausbeuter. Er möchte das heute in Europa verbreitete Afrika-Bild ins Bewusstsein rufen, um so zu einer Dekolonialisierung der europäischen Wahrnehmung Afrikas beizutragen. Man kann Shonibares Werk als eine Art Visualisierung des wissenschaftlichen Ansatzes betrachten, der im Forschungsschwerpunkt „Aufgeklärter Kolonialismus“, der am Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung an der Universität Halle (IZEA) verfolgt wird.

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Kant in Königsberg und Kaliningrad – Nelli Smirnjagina

Wenn Immanuel Kant heute auch in der Kunstszene Kaliningrads präsent ist, hat daran sicher die Künstlerin Nelli Smirnjagina herausgehobenen Anteil, die seit Jahrzehnten Gemälde und Porträts dem Philosophen und seiner Stadt Königsberg widmet. Smirnjagina setzt sich in einer Reihe von Werken mit der Vergangenheit und Zerstörung von Königsberg und dessen Wahrnehmung im heutigen Kaliningrad sowie mit Immanuel Kant und seiner Zeit auseinander.

Nelli Smirnjagina: „In den Zeiten von Kant”, Pastell, 2004 https://www.bkge.de/Projekte/Kant/matthiasweber/Smirnjagina_Nelli.php

Im Zentrum des Pastells steht der Königsberger Dom. Die darüber aufsteigende Möwe ist eine Botin Gottes, die mit ihren weit geöffneten Flügeln für die Verbindung mit dem Universum und für Universalität steht. Sie ist zugleich ein Symbol des (nahegelegenen) unendlichen Meeres und der Freiheit des Menschen. Auf dem Platz vor dem Dom befinden sich tanzende oder zumindest fröhliche Menschen in der Kleidung des 18. und 19. Jahrhunderts. Darüber sind Porträts des preußischen Königs Friedrich II. des Großen (1712-1786), des jungen Immanuel Kant (1724- 1804), von Andrej Bolotov (1738-1833) und von Jean-Jaques Rousseau (1712-1778). Der russische Wissenschaftler, Schriftsteller und Philosoph Bolotov kam 1758 im Siebenjährigen Krieg als Soldat mit den russischen Besatzungstruppen nach Königsberg. Seine Äußerungen verdeutlichen, dass keinerlei Hass die Kriegsparteien leitete. Als er 1762 die Stadt verließ, schrieb er: „Lebwohl geliebte und teure Stadt, lebwohl für immer… Möge der Himmel Dich vor allem Übel bewahren, möge er seine Güter freigiebig über Dir ausschütten! … Bis ans Ende meiner Tage will ich Deiner gedenken“. Die vier Persönlichkeiten stehen für das Zusammenwirken von Herrschaft, Philosophie, Literatur und Wissenschaft, repräsentiert durch Intellektuelle aus unterschiedlichen Ländern. Das Pastell zeigt eine Idylle aus den früheren, glücklichen Tagen Königsbergs und ist gleichsam eine Werbung für die kulturelle Vielfalt. Es ist als Einladung zur Auseinandersetzung mit der Geschichte Königsbergs und Kaliningrads zu verstehen und als Anregung, diese Vergangenheit als Teil der heutigen Identität Kaliningrads wieder lebendig werden zu lassen.

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„Mark Zuckerberg meets Immanuel Kant”  – „Pop Art“ und „Digital Art“

Walter Bortolossi: „Mark Zuckerberg meets Immanuel Kant“, Ölgemälde, 2011:

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Der italienische Maler Walter Bortolossi (*1961) verbindet in seinen Werken klassische Malerei mit Pop-Art und baut dadurch eine Spannung zwischen Geschichte und Gegenwart auf, die für seine Werke typisch ist. Bortolossi führt so historische und aktuelle Kontexe zusammen. Der Künstler hat zahlreiche Bilder philosophischen Themen gewidmet. Hier wird Immanuel Kant, der Philosoph der universellen Vernunft, im Gespräch mit Mark Zuckerberg, dem Gründer der universellen Social MediaGemeinschaft Facebook, dargestellt. Das Gemälde basiert auf der Gegensätzlichkeit und dem Wettbewerb der Charaktere, die jeweils zentrale Entwicklungen in verschiedene Zeiten und Welten verkörpern. Bortolossi hat dazu folgendes geschrieben: „Ich spiele hier auf die Konkurrenz verschiedener Ideen an, und zwar dadurch, dass das Gemälde ironisch den Gewährsmann allen Denkens [= Kant] mit dem Gründer sozialer Netzwerke [= Zuckerberg] vergleicht: Hintergrund ist der gegenwärtige Zusammenbruch gemeinsamer Werte und Ordnungen. Deshalb die Hinweise auf den sozialen Wohlstand, die Krisen im Nahen Osten und die wirtschaftliche Bedeutung von Rohstoffen“. In der Anordnung und der Anzahl der Figuren ist unschwer eine Anspielung auf das Abendmahlgemälde von Leonardo da Vinci zu erkennen. Die Szene ist also in einem heilsgeschichtlichen Kontext arrangiert. Somit wird nicht nur die Frage gestellt, ob die Social Media eine zweite Aufklärung und eine Heilsbotschaft bedeuten, vielmehr wird die Problematik der ethischen Entwicklung der Menschheit insgesamt aufgeworfen. Die Umgebung, in welche die Figuren eingebettet sind, signalisiert die derzeitige Dynamik und die Ungewissheit der Zukunft.

Frank Shepard Fairey. „Obama Hope Poster“, Druck, 2008 und digitale Variationen

„Obama Hope-Poster, 2008”, https://medium.com/fgd1thearchive/obamahopeposterbyshepardfairey1307a8b6c7be

Die massenhaft im Internet präsente „Digital Art“ hat eigenes Gewicht – auch in ihrer Bezugnahme auf Kant. Das wird anhand eines einzigen Beispiels angedeutet: Der zeitgenössische Street-Art Künstler, Grafiker und Illustrator Frank Shepard Fairey (*1970, South Carolina) erreichte während des US-Präsidentschaftswahlkampfs 2008 Bekanntheit. Er hatte ein Werbe-Poster entworfen, das ein verfremdetes Porträt Barak Obamas mit dem Wort „HOPE“ zeigte. Das in den Nationalfarben rot, blau und weiß gehaltene, stilistisch an die Pop-Art erinnernde Poster entwickelte sich rasch zum bekanntesten Motiv der Obama-Wahlkampagne. Mit Hilfe eines Bildbearbeitungsprogramms wurde der Stil des Obama-Posters auch auf andere Porträts übertragen, insbesondere auf Kant. Hierbei wurde der Slogan Obamas („Yes we can“) spielerisch mit dem Namen „Kant“ kontrastiert und variiert, so dass parodistisch-überraschende Neukombinationen („Yes we Kant“; „No we Kant“ u.a.) entstanden, die medial weit verbreitet wurden.

Dieses abschließende Beispiel steht für hundertfache Variationen des Kant-Porträts in der digitalen Kunst und im Internet generell. Diese basieren stets darauf, dass eines der klassischen zeitgenössischen Kantporträts mit Hilfe eines Bildprogramms bearbeitet wird. Diese digitalen Verfremdungen sind aufgrund ihrer Verbreitung nicht außer acht zu lassen. Sie führen zu einer ganz neuen medialen Präsenz von Kantporträts gerade auch unter jüngeren Adressaten und machen neugierig, mehr zu erfahren. Kant ist auch unter jungen Leuten nicht „out“ – sonst wäre 2001 nicht in Mexiko die ziemlich erfolgreiche Avantgarde Punk-Band „Descartes a Kant“ gegründet worden, die ihre Bezeichnung ausdrücklich mit der Bedeutung dieser beiden Philosophen begründet.

Der am 21.04.2018 im Kunsthistorischen Gebietsmuseum Kaliningrad gehaltene Vortrag wurde für die Veröffentlichung überarbeitet. Er beruht auf folgender Online-

Publikation, in der die meisten hier erwähnten Kunstwerke abgebildet und beschrieben sind: Matthias Weber: Immanuel Kant in Werken der modernen Kunst. Dokumentations- und Forschungsprojekt: https://www.bkge.de/Projekte/Kant/matthiasweber/Matthias_Weber_Immanuel_Kant_in_Werken_der_modernen_Kunst.php

Zur Vorbereitung des 2024 anlässlich des 300. Geburtstags Immanuel Kants stattfindenden Kant-Jahres werden am BKGE eine Reihe von Projekten durchgeführt, siehe: https://www.bkge.de/Projekte/Kant/

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