Geschichte, Kant-Jahr 2024

Kant war Ostpreuße

Meine Damen und Herren, liebe Freunde Kants!

Warum haben wir uns heute hier versammelt? Antwort: Weil Immanuel Kant Ostpreuße war.  In Königsberg ist er geboren und gestorben; hier hat er fast sein ganzes Leben verbracht. Zwar hat er Königsberg manchmal verlassen,  Ostpreußen aber nie.  Nach dem Studium lebte er von 1747 bis 1750 als Erzieher der Söhne des Pfarrers Andersch in Judtschen bei Gumbinnen und von 1750 bis 1754 bei der Familie von Hülsen in Groß Arnsdorf. Danach blieb er für immer in Königsberg und fuhr nur gelegentlich einmal aufs Land. Mehrmals besuchte er seinen Freund Friedrich Leopold Freiherrn v. Schrötter auf dessen Rittergut Wohnsdorff bei Friedland, zweimal den General v. Lossow auf dessen Gut bei Goldap, einmal machte er einen Besuch bei dem Bürgermeister von Braunsberg und  mehrmals mit seinen Freunden Green und Motherby Ausflüge nach Pillau. Am liebsten las er Reisebeschreibungen, reiste aber selbst nicht. In Königsberg fand er alles, was er brauchte. Er erklärt das in einer Anmerkung in der Vorrede zu seiner „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“:

„Eine große Stadt, der Mittelpunkt eines Reichs, in welchem sich die Landescollegia der Regierung desselben befinden, die eine Universität (zur Cultur der Wissenschaften) und dabei noch die Lage zum Seehandel hat, welche durch Flüsse aus dem Inneren des Landes sowohl, als auch mit angränzenden entlegenen Ländern von verschiedenen Sprachen und Sitten einen Verkehr begünstigt, — eine solche Stadt,  wie etwa Königsberg am Pregelflusse, kann schon für einen schicklichen Platz zu Erweiterung sowohl der Menschenkenntniß als auch der Weltkenntniß genommen werden, wo diese, auch ohne zu reisen, erworben werden kann“ (1). 

Man muß sich klarmachen: Die Welt, in der Kant sein ganzes Leben verbrachte, war Ostpreußen. Hat sich das auf ihn und auf seine Philosophie ausgewirkt? Auf ihn selbst ganz gewiß: Kant sprach ostpreußisch.  Sein Schüler R. B. Jachmann schrieb in seiner 1804 veröffentlichten Biographie „Immanuel Kant geschildert in Briefen“: „Er sah die Konversationssprache bloß als ein Mittel an, unsere Gedanken leicht gegeneinander auszutauschen; sie müßte also …zum allgemeinen leichten Verkehr kein anderes als das Gepräge des Landes haben. Daher war er in seiner Sprache selbst so sorglos, daß er Provinzialismen im Munde führte und bei mehreren Wörtern der fehlerhaften Aussprache der Provinz folgte“ (2).

Kant sagte also wahrscheinlich  „Marjellchen“ für  „Mädchen“, „Lorbass“ für Junge, „Schmant“ für „Sahne“ und „Glumse“ für „dicke Milch“. In der ostpreußischen Aussprache klingt  „e“ wie „a“ und „ö“ wie „e“; Kant sprach also wohl „essen“ wie „assen“ aus, „Messer“ wie „Masser“ und „Königsberg“ wie „Keenichsbarch“.

Vielleicht rief er auch zum Ausdruck des Erstaunens: „Erbarmung!“ mit Zungen-R  und folgte der ostpreußischen Neigung, die Substantive zu Diminutiven zu machen, sagte also: „Hundchen, Kindchen, Hauschen“. Im Russischen gibt es die gleiche Erscheinung; man sagt „Sobatschka, Detotschka, Domik“ (собачка, деточка, домик),  und dem ostpreußischen Ausruf „Erbarmung!“ entspricht im Russischen: „Pomilujte!“ (Помилуйте!) Diese Spracheigentümlichkeiten sind etwas Östliches. „Wie das Königsberg dieser Zeit, so steht auch Kant mit dem Gesicht nach Osten“ (3). Sein Bruder war Pfarrer in Kurland, seine Studenten kamen aus Ostpreußen, Livland und Kurland, seine ersten beiden Kritiken erschienen in Riga. Mitau, Dorpat und Riga lagen ihm nicht nur geographisch, sondern auch geistig näher als Göttingen, Tübingen und Erlangen. 

Ostpreußische Spracheigentümlichkeiten  finden sich auch in Kants Schriften. Karl Rosenkranz und Friedrich Wilhelm Schubert, die Herausgeber der ersten Gesamtausgabe der Werke Kants, schrieben 1837 in der Vorrede dazu: 

„Bis auf die Kritik der praktischen Vernunft hin findet man bei Kant  s e y n  für  s i n d  … und für  s e y e n  gedruckt. Dies kommt aus dem Plattdeutschen her, das in Königsberg, wie in Danzig und Hamburg auch von den höheren Ständen, wenn sie in einen herzlichen Ton übergehen, gesprochen wird. … Im Plattdeutschen lautet der  I n f i n i t i v   s ì n  eben so wie die dritte Person Pluralis im  I n d i c a t i v  sowohl als im  C o n j u n c t i v.  Hieraus erklärt sich, wie Kant für diese beiden Fälle ganz unbefangen  s e y n  schreiben konnte. Er individualisirte dies unstreitig beim Lesen aus dem Plattdeutschen Sprachgebrauch heraus und setzte diese Individualisirung auch bei seinen Lesern voraus“ (4).  

Ostpreußisch ist es auch, wenn Kant in den Prolegomena (5) schreibt, „daß die Vernunft sich mit diesem Begriffe ganz und gar betriege“, und in seinem Aufsatz „Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseyns Gottes“ (6) von den „untrieglichen Bestimmungen des Daseins“ spricht. Ostpreußen sprechen „ü“ wie „i“ aus. 

Die Verbundenheit mit seiner Heimatstadt zeigt Kant dadurch, daß er fast alle seine Werke mit Ortsangabe versehen hat, so z. B. den Aufsatz „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ mit der Angabe am Ende: „Königsberg in Preußen, den 30. Septemb. 1784“ (7). 

Die Frage stellt sich , ob Ostpreußen auch den Inhalt von Kants Werken beeinflußt hat. Das wird von K. Rosenkranz und F.W. Schubert  bejaht:

„Indessen begreifen wir recht wohl, dass Kant’s Philosophie nur dann recht verstanden werden kann, wenn man sie in ihrem Zusammenhange mit der Geschichte des vorigen Jahrhunderts und in dem speciellen Zusammenhange mit der literarischen Cultur Ostpreussens und Königsbergs insbesondere erkennt“ (8). 

In seiner „Geschichte der Kant’schen Philosophie“ leitet Rosenkranz die preußische Neigung zur Philosophie direkt aus der Landschaft ab: „Preussen überhaupt ist ein schon von Natur zur Cultur des Gedankens berufenes Land. In einem schon sehr winterlichen Klima eine weite Ebene, hier und da von Hügelreihen durchzogen, von einer Menge von Landseen belebt, von mächtigen Strömen durchschnitten, von Haidekraut, Laub- und Nadelhölzern überwachsen, oder ganz und gar durch Sand und Geschiebe … an den trocken gelegten Meeresgrund erinnernd, fordert es gleichsam die Reflexion heraus. Ein Preusse, Copernicus, war es, welcher die Erde für unser Bewusstseyn in ihren rechten Himmelsort eingliederte. Ein Preusse, Kant, war es, der die alte Weltanschauung revolutioniren half und im Selbstbewusstseyn des Menschen die so lange ausserhalb gesuchte Sonne des Geistes auch für die Philosophie aufgehen liess“ (9).

K. Rosenkranz stammte aus Magdeburg und beschrieb deshalb Ostpreußen und Königsberg als ein von außen Gekommener, der dann allerdings zu einem überzeugten Königsberger wurde. In seinen den Königsbergern gewidmeten, 1842 in Danzig erschienenen „Königsberger Skizzen“ heißt es: „Königsberg birgt eine tiefe Eigenthümlichkeit, eine gediegene Bildung. … Die isolierte Lage Königsbergs … treibt die Königsberger zum Reisen an. Sehr viele Männer und Frauen der gebildeten Gesellschaft Königsbergs haben ihre Tour durch Deutschland, Frankreich und Italien gemacht … Mit dem Scandinavischen Norden, mit England, Holland, Hamburg und Lübeck stehen die Kaufleute fortwährend auch im persönlichen Verkehr. Nicht wenige kennen auch Rußland und wissen nicht nur von Petersburg, sondern auch von Moskau interessante Mittheilungen zu machen. Ich sehe immer mehr ein, wie die erstaunenswürdige Kenntniß der Geographie, wodurch  K a n t  sich auszeichnete, auch durch den gesammten Zusammenhang der hiesigen Bildung getragen ward“ (10).   

In dem Kapitel „Allgemeiner Charakter Königsbergs“ seiner „Königsberger Skizzen“ erklärt Rosenkranz das Wesen Königsbergs wie folgt: „Mir scheint nun der Hauptzug Königsbergs in einer durch den nüchternsten  V e r s t a n d  b e h e r r s c h t e n  U n i v e r s a l i t ä t  zu liegen. … Es beweist dadurch seine  A n l a g e  z u m  F o r t s c h r i t t .  … Aber in seiner Universalität ist es zugleich von unerbittlicher V e r s t ä n d i g k e i t . …  Diese Verständigkeit ist in Verbindung mit jener Universalität der Grund einer seltenen  G e r e c h t i g k e i t  d e s  U r t h e i l s . …  Wenn deshalb von Königsberg die  k r i t i s c h e  Philosophie ausgegangen ist, so hat man in der That darin mehr als einen Zufall zu sehen“ (11). 

Das Land und die Menschen Ostpreußens haben Kant geprägt. Es kommt jedoch noch mehr hinzu. Wie der Philosophieprofessor an der Albertina Arnold Kowalewski im April 1924 in seiner Festrede zum 200. Geburtstag Kants dargelegt hat, spiegelt der Geist der ostpreußischen Heimat sich auch in Kants System wider. Kowalewski führt mehrere Eigenschaften des ostpreußischen Charakters an, die sich auf Kants Werke ausgewirkt haben: erstens die manchmal etwas derbe Schlichtheit  der Ostpreußen, zweitens ihre an Hartnäckigkeit grenzende Starrheit, ein tiefer Widerwille gegen schwächliches Schwanken, drittens ihr Streben nach Ganzheit, die Abneigung gegen Halbheit, viertens ihre entschlossene Tatkraft. Es lohnt sich auch heute, den Text dieser Rede zu lesen, an deren Ende Kowalewski seine Überzeugung zum Ausdruck brachte, „daß Kant nicht nur äußerlich zu uns gehört als der Königsberger Weltweise, sondern auch innerlich, insofern in seiner Philosophie ein starker Heimatgeist waltet. Für uns Ostpreußen entspringt hieraus die ernste Verpflichtung, diese Philosophie, die sozusagen ein Stück unseres eigenen Wesens ist, wieder zu lebendiger Wirkung zu steigern. Damit werden wir der Geisteskultur unseres Ostens den besten Dienst leisten“ (12). 

Vor über 60 Jahren ist Ostpreußen untergegangen. Es ist ein großes Unglück, dass gerade die Ostpreußen, Menschen des Ostens, die den Russen in vielen Dingen ähnlich waren, in den Westen getrieben wurden. Heute leben nur noch wenige Menschen, die im alten Ostpreußen geboren sind. Als „Ostdeutschland“ bezeichnen wir heute Thüringen und Sachsen, also Länder, die geschichtlich immer in der Mitte Deutschlands lagen. Das heutige Deutschland ist fest im Westen verankert, ist scheinbar ein ganz und gar westliches Land. 

Was ist nun mit der Geisteskultur unseres Ostens, von der Kowalewski sprach, die ein Stück unseres eigenen Wesens war? Hat sich unser Wesen verändert?  Ich glaube nicht. Gibt es die „Geisteskultur unseres Ostens“ nicht mehr, weil Ostpreußen als Ergebnis des Zweiten Weltkriegs nicht mehr „unser Osten“ ist? Ich meine, es gibt sie noch, wenn auch auf andere Weise. Wenn man das in philosophischen Begriffen ausdrücken wollte – Königsberg ist ja die Hauptstadt der Philosophie – ,  könnte man sagen: Die 700jährige deutsche Geschichte Ostpreußens ist die These; die Vernichtung Ostpreußens 1944/45 und der anschließende Versuch, die deutsche Geschichte dieses Landes auszurotten, ist die Negation der These, die Antithese; und heute arbeiten Russen und Deutsche gemeinsam an der Synthese, indem sie sich bemühen, das große kulturelle Erbe Ostpreußens in dem nun zu Russland gehörenden Land zu bewahren. Deswegen sind wir hier. 

Russland hat das Land und die Stadt Kants erobert. Das Ergebnis dieser Eroberung ist, dass der Geist Kants sich nun ungehindert in ganz Russland verbreiten kann. Kant ist Ostpreuße und Deutscher geblieben und gleichzeitig ein Landsmann der Russen geworden.  Die beiden größten Völker Europas, Russen und Deutsche, reichen sich im Geiste Kants die Hand.   

Schon zum zweiten Mal findet jetzt ein Treffen der deutschen und der russischen Gesellschaft der Freunde Kants in Königsberg statt. Ich schlage vor, in Zukunft jedes Jahr zum Geburtstag Immanuel Kants ein solches Treffen zu veranstalten, mit einem feierlichen gemeinsamen Bohnenmahl am Ende. Die Salzburger und die Bayreuther Festspiele,  das Weltwirtschaftstreffen in Davos und die Festspiele der Weißen Nächte in St. Petersburg finden ja auch jedes Jahr statt; warum also nicht ein deutsch-russisches Treffen der Gesellschaft der Freunde Kants in Königsberg? Lassen Sie uns daraus eine gemeinsame deutsch-russische Tradition machen und damit an die alte Königsberger Tradition anknüpfen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und bitte jetzt um Ihre Meinung zu meinem Vorschlag.   

© 2009 Gerfried Horst 

Anmerkungen

  1. Kants Werke, Akademie- Textausgabe (Ak.) Band VII, Anm. S. 120, 121
  2. Reinhold Bernhard Jachmann, Immanuel Kant geschildert in Briefen an einen Freund, in: Immanuel Kant, Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen, hrsg. von Felix Gross, Neudruck Darmstadt 1993 
  3. Kurt Stavenhagen, Kant und Königsberg, Göttingen 1949, S. 36
  4. Immanuel Kants Sämmtliche Werke, hrsg. von Karl Rosenkranz und Friedr. Wilh. Schubert, Erster Theil, Leipzig 1838, S. XVII/XVIII
  5. Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik die als Wissenschaft wird auftreten können, von Immanuel Kant. Riga 1783, S. 8
  6. Immanuel Kant, Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseyns Gottes, in: Kant Werke, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Sonderausg. Darmstadt 1960, S. 616 ff., 636
  7. Ak. VIII, S. 33 ff., 42
  8. Immanuel Kants Sämmtliche Werke, hrsg. von Karl Rosenkranz und Friedr. Wilh. Schubert, aaO S. XXIV
  9. Karl Rosenkranz, Geschichte der Kant’schen Philosophie, in: Immanuel Kants Sämmtliche Werke, hrsg. von Karl Rosenkranz und Friedr. Wilh. Schubert, Zwölfter Theil, Leipzig 1840, S. 98/99
  10. Karl Rosenkranz, Königsberger Skizzen, Danzig 1842, Nachdruck 1972, S. XXVI/XXVII
  11. Ibidem, S. 64 – 69 passim
  12. Arnold Kowalewski, Vom Heimatgeist in der Kantischen Philosophie, in: Rudolf Malter (Hg.), „Denken wir uns aber als verplichtet…“ Königsberger KantAnsprachen 1804-1945, S. 150 ff., 155
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