Vortrag in Kaliningrad: Deutsch-russisches Treffen zu Immanuel Kants Geburtstag am 22. April 2008
In den Reigen der Gratulanten zu Immanuel Kants Geburtstag möchte mich mit einigen Überlegungen einreihen, die ebenfalls die Aktualität der Philosophie Kants betreffen. Ich greife hierbei das vorhin bereits zur Sprache gekommene Thema des Kosmopolitismus wieder auf, möchte es aber mit Blick auf das, was Kant den Weltbegriff der Philosophie nennt, auf einen besonderen Bereich und ein aktuelles Thema anwenden. Der besondere Bereich ist – das mag auf den ersten Blick vielleicht überraschen – das Verhältnis von Philosophie und Religion –; genau darauf bezieht sich aber Kants Weltbegriff der Philosophie. Die Aktualität des Themas ist durch die weltweit zu beobachtende Renaissance des religiösen Bewußtseins und die damit verbundene Herausforderung an das aufgeklärt-säkulare Selbstverständnis der Moderne gegeben.
Es ist vor allem Jürgen Habermas gewesen, der dieses Thema spätestens seit seiner Rede über „Glauben und Wissen“ anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels im Jahre 2001[1] auf die Tagesordnung der philosophischen Diskussion gebracht hat. Dies geschah unter dem Eindruck der Ereignisse des 11. September 2001. Sie haben, so Habermas, „die Spannung zwischen säkularer Gesellschaft und Religion“(9) auf schockierend-grausame Weise explodieren lassen. Seitdem bemüht sich Jürgen Habermas mit einer höchst beachtlichen Resonanz darum, das Verhältnis von aufgeklärter Vernunft und Religion unter den Lebensbedingungen einer säkularen Weltgesellschaft genauer zu bestimmen.[2]
Diese Perspektive ist auch die Perspektive Kants. Habermas’ Frage, ob der moderne, freiheitliche und vernunftrechtliche Verfassungsstaat nicht nur auf verbindliche Normen, sondern auch auf religiöse Überzeugungen angewiesen ist bzw. sie berücksichtigen und von ihnen sogar profitieren sollte, diese Frage, die Habermas emphatisch bejaht, betrifft den kantischen Weltbegriff der Philosophie. Und wenn Habermas vorschlägt, das wissenschaftlich weithin aufgeklärte und politisch emanzipierte Bewusstsein, das sich aus der Tradition der Aufklärung speist, möge mit den Überzeugungen des religiösen Bewusstseins in einen neuen und offenen Diskurs eintreten und darin eine Herausforderung für die Philosophie unserer Gegenwart sieht,[3] dann hält Habermas sich ebenfalls im Rahmen des kantischen Weltbegriffs der Philosophie. Mit diesem Konzept hat Kant die von Habermas genannte Herausforderung zu seiner Zeit angenommen und ausgetragen. Davon, das möchte ich im folgenden zeigen, ist auch unter den Bedingungen unserer Gegenwart noch zu lernen.
I. Der Weltbegriff der Philosophie
Ich beginne mit Kants Bestimmung des Begriffs der Philosophie. Kant definiert den Begriff der Philosophie als „die Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft“ (B 867).[4] Mit Blick auf die wesentlichen Zwecke unterscheidet Kant einen letzten bzw. einen „Endzweck“ und „subalterne Zwecke“ (B 868). Der Endzweck betrifft das, was Kant, mit der berühmten, von Johann Joachim Spalding geprägten Formel der Aufklärung „die ganze Bestimmung des Menschen“ (B 868)[5] nennt. Sie bezieht sich nicht nur auf die personale Moral, die Lebensführung des je Einzelnen, sondern vielmehr auf die Einheit von personaler und sozialer Moral.[6]
Genau darin hat Kant die „weltbürgerliche Bedeutung“ (AA IX, 25) der Philosophie gesehen bzw. das, was er den „Weltbegriff“ (B 866) der Philosophie nennt. Sofern die Philosophie darüber zur Klarheit zu kommen sucht, welches die wesentlichen Zwecke sind, auf die das menschliche Leben ausgerichtet ist, betrifft sie das, „was jedermann notwendig interessiert“. „Weltbegriff“, so lautet Kants Erklärung, „heißt hier derjenige, der das betrifft, was jedermann notwendig interessiert.“ (B 868) Daß damit nicht nur das individuelle Leben gemeint ist, sondern in der Tat eine kosmopolitische Dimension im Blick steht, das zeigt Kants Erklärung, daß der Mensch „durch seine Vernunft bestimmt [ist], in einer Gesellschaft und mit Menschen zu sein und in ihr sich durch Kunst und Wissenschaft zu kultivieren, zu zivilisieren und zu moralisieren.“ (AA VII, 324f.) Das ist das, was Kant eine „moralische Kultur“ nennt. Zu fragen ist aber, welches die wesentlichen Zwecke sind, die jedermann notwendig interessieren sollten, und zu fragen ist, wie sich von hieraus Kants Weltbegriff der Philosophie, der offenbar nur eine Erläuterung seines Begriffs von Philosophie selber ist, präziser bestimmen lässt.
Unter dem Begriff der Welt – um damit zu beginnen – versteht Kant ein vollständiges Ganzes, das den „Inbegriff existierender Dinge“ (B 448f) umfasst. Ein solches vollständiges Ganzes, eine „absolute Totalität“, nennt Kant terminologisch eine Idee.[7] Ideen sind Begriffe, die auf ein Ganzes, eine Totalität, bezogen sind. Der Begriff der Welt ist also eine Idee.
Was hat das mit dem, was Kant den Weltbegriff der Philosophie nennt, zu tun? Offenkundig wird der Begriff der Philosophie hier seinerseits unter dem der Welt gefasst; so darf man annehmen, daß mit dem Weltbegriff der Philosophie die Gesamtheit der Einsichten gemeint ist, die in einer philosophischen Theorie entwickelt werden. Im Blick auf die eben zitierte Rede von einem letzten bzw. Endzweck wäre dann zu sagen, daß die Gesamtheit der Einsichten geordnet sein muß, und zwar muß sie geordnet sein mit Bezug auf ein letztes, unbedingtes Prinzip; und dessen Funktion muß es sein, die Einheit aller Einsichten zu garantieren. Von diesem Prinzip war eben schon die Rede. Es ist das, was Kant „die ganze Bestimmung des Menschen“ nennt. Das also wäre das Prinzip, auf das die Philosophie, wenn sie nach ihrem Weltbegriff genommen wird, die Gesamtheit ihrer Einsichten zurückführt.
Auch das Konzept der ganzen Bestimmung des Menschen ist eine Idee der Vernunft, denn auch hier geht es um die Vorstellung von einem Ganzen. Genauer ist es eine Idee der Vernunft, sofern sie für unser Handeln eine letzte Orientierung bereitstellt, eine Idee also der praktischen Vernunft. So besteht die ganze Bestimmung des Menschen darin, daß eine Idee der praktischen Vernunft realisiert werden soll. Diese Idee kann nun ihrem Inhalt nach keine andere sein als die eben erwähnte Idee einer moralischen Welt. Und das ist die Idee von einer Welt, die, wie Kant es ausdrückt, „allen sittlichen Gesetzen gemäß wäre“ (B 836) und in der die individuelle Freiheit mit der Freiheit aller in Übereinstimmung wäre.[8] Eine philosophische Theorie, die mit diesem Konzept die Einheit und den Abschluß ihrer Erkenntnisse findet, das wäre also eine Philosophie nach dem Weltbegriff zu nennen.
Es ist offenbar genau dieser Begriff, der der Philosophie Kants in unserer Gegenwart Weltgeltung verschafft hat. Kants Vertrauen auf die normative Kraft einer universellen Vernunft, sein Kampf gegen Irrationalismen und Ideologien aller Art und sein Plädoyer für eine auf dem Gedanken der Freiheit und des Rechts gegründete weltbürgerliche Ordnung, in der er die einzig mögliche Garantie eines auf Dauer angelegten Weltfriedens sah, diese Faktoren sind die unhintergehbaren und alternativelosen Prinzipien eines kosmopolitischen Denkens und Handelns unter den Bedingungen der Moderne geworden. Mit diesem Weltbegriff der Philosophie ist Kant zum Philosophen der Welt geworden.[9]
II. „Ist ein Gott?“
Doch ist damit Kants Weltbegriff der Philosophie noch nicht erschöpft. Die Betonung des kosmopolitischen Charakters der menschlichen Vernunft wird Kants Begriff von einem Endzweck der Vernunft nicht gerecht. Es ist entscheidend zu sehen, dass der Endzweck der menschlichen Vernunft sich nicht direkt und in erster Linie auf den Begriff einer moralischen Welt bezieht. Er bezieht sich vielmehr über ihn hinaus auf die Möglichkeit der Realität von zwei anderen Ideen, und das sind keine anderen als die Idee Gottes und die Idee der Unsterblichkeit der menschlichen Seele. Es sind daher im wesentlichen zwei Fragen, deren Beantwortung Kant zufolge den letzten und höchsten Zweck der menschlichen Vernunft ausmacht. Die eine Frage lautet: „Ist ein Gott?“, die andere lautet: „Ist ein künftiges Leben?“ (B 831) Auf diese Fragen eine Antwort zu finden, das ist eigentlich das, was jedermann notwendig und in letzter Instanz interessiert. Entscheidend ist, welche Antwort Kant darauf gibt. Es ist eine Antwort, so scheint mir, mit der wir durchaus etwas anfangen können, und die auch Habermas vorgelegt werden kann: Diese Antwort macht auf ein Defizit seines eigenen Vernunftbegriffs aufmerksam.
Für die Einschätzung der Bedeutung der Philosophie Kants folgt daraus, wie man leicht sehen kann, etwas Entscheidendes. Wer im kosmopolitischen Charakter der Philosophie Kants die Grundlage ihrer Weltgeltung sieht, der muß sich auch zu diesem Punkt, dem Zusammenhang von Philosophie und Religion, in ein geklärtes Verhältnis setzen. Die Aufklärung dieses Zusammenhangs betrifft nicht nur ein innersystematisches Problem der Philosophie Kants. Diese Aufgabe betrifft, wie eingangs ausgeführt, ein Problem unserer Gegenwart.
Sie führt zurück zu Kants Moralphilosophie. Denn sie ist der Ort, an dem nicht nur die ganze Bestimmung des Menschen ihre theoretische Begründung erhält, sondern auch das Verhältnis von Philosophie und Religion geklärt wird. Kants Rede von der ganzen Bestimmung des Menschen umfaßt auch den Bereich seiner natürlichen Bedürfnisse, Triebe und Neigungen. Kants Ethik, so ist gegen den immer wieder aufkommenden Vorwurf eines leeren Formalismus betonen, trägt der conditio humana durchaus Rechnung. Das heißt, sie reflektiert auf die von Natur aus gegebene Bedürftigkeit des konkreten Menschen, einer Bedürftigkeit, mit der das Streben nach einem umfassenden Wohlergehen unmittelbar verbunden ist; es ist das, was Kant Glückseligkeit nennt. Dieses für uns alle wesentliche Streben nach Glück sucht Kants Ethik mit den Forderungen der Moralität in Übereinstimmung zu bringen – das ist hier besonders zu betonen. Auf diese Weise sucht sie das Glücksstreben nicht zu unterdrücken, sondern ihm eine ethische Anerkennung und Rechtfertigung zu verschaffen.[10]
Dieser Zusammenhang von Moralität und dem Streben nach Glück führt nun auf diejenigen Fragen, an denen die menschliche Vernunft das höchste Interesse nimmt und in denen sie den eigentlichen Endzweck aller ihrer Bestrebungen sieht, die Frage nach der Existenz Gottes und nach der Unsterblichkeit der Seele. Hier kann und soll nur die erste Frage in den Blick genommen werden. Die Frage nach der Verfassung und nach der Begründung des religiösen Bewußtseins unter den Bedingungen einer aufgeklärten Vernunft, diese Frage hat also genau dort ihren Ort, wo gleichsam der Nerv der conditio humana liegt, und das ist das Streben nach einem umfassenden Wohlergehen, das sich in einen selbstverantworteten Lebenszusammenhang einfügt, der von universalen Normen unseres Handelns getragen ist.
III. Der Begriff von Gott
Versucht man, den entscheidenden Punkt in Kants Überlegungen zu der Frage namhaft zu machen, welche Bedeutung die Rede von Gott im Kontext einer Moralphilosophie haben kann, die das Glückbedürfnis nicht überspringt, dann ist das Folgende zu sagen. Kants auf den ersten Blick durchaus provokante These ist es, 1. daß die Idee Gottes eine notwendige Voraussetzung ist, die von der menschlichen Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch selber gemacht ist; und dass sie 2. eine Idee ist, aus der die Möglichkeit eines Lebensentwurfs begriffen werden kann, der von der Idee geleitet ist, daß das Streben nach Moralität – nach einem Leben somit, dass in eigener Verantwortung und hinsichtlich der leitenden Werte in Konkordanz mit dem zu führen ist, was sich vor dem Forum vernünftiger Gründe allgemein vertreten lässt –, dass ein solches Leben doch auch mit dem Aussein auf Glück und einem in vielfältigen Hinsichten gelingenden Leben harmonisch übereinstimmen möge. Diese Idee ist genau das, was Kant die proportionale Übereinstimmung von Moralität und Glückseligkeit nennt und unter der Idee eines „höchsten Guts einer moralischen Welt“[11] begreift.
Sieht man sich nun Kants Argument für die Voraussetzung der Idee Gottes genauer an, dann zeigt sich das Folgende. Dieses Argument hat eine durchaus überzeugende und realistisch-nüchterne Prämisse: Es ist die Einsicht, daß es gar keinen wissenschaftlichtheoretischen Grund gibt, aus dem die Möglichkeit einer solchen Übereinstimmung von Moralität und Glückseligkeit begriffen werden könnte: Der moralisch Handelnde kann nicht den Weltlauf und die Naturgesetze seinem Willen unterwerfen, und die Natur richtet sich nicht von sich aus nach moralischen Gesetzen. Gleichwohl geht die Idee von der Beförderung jenes höchsten Gutes einer moralischen Welt gleichsam insgeheim von der Voraussetzung aus, daß eine solche Übereinstimmung von Naturgesetzen mit den Gesetzen der Moralität möglich sei, denn auf eine solche Übereinstimmung ist ihre Forderung gerichtet, von ihr lebt und zehrt sie sozusagen, ohne diese Forderung würde sie ins Leere laufen und in sich zusammenbrechen.
Der entscheidende Schritt liegt nun in dem von Kant daraus gezogenen Schluß, daß mit der Forderung nach einer solchen Übereinstimmung das Postulat einer externen Ursache verbunden sein muß, einer Ursache, die eine Natur hervorzubringen imstande ist, die den theoretisch nicht beizubringenden Grund für diese Übereinstimmung enthält. Eine solche externe Ursache muß nun auch in der Lage sein, nach moralischen Gesetzen zu wirken, denn sie soll ja die Ursache der Übereinstimmung von Naturordnung und moralischer Weltordnung sein. Deswegen muß sie Verstand und Willen haben – und genau das meint der Begriff von Gott. Das also ist der entscheidende Punkt: Um die Möglichkeit einer Konvergenz von Moralität und Wohlergehen begreiflich zu machen, einer Konvergenz, von deren Antizipation das menschliche Streben nach Glück sich unausweichlich leiten läßt, für die unter den Bedingungen der Endlichkeit und Kontingenz unserer Existenz aber weder ein theoretischer Grund noch eine Garantie ihrer Realisierung in Aussicht steht, um diese Möglichkeit begreiflich zu machen, postuliert die praktische Vernunft die „Wirklichkeit eines höchsten ursprünglichen Guts, nämlich der Existenz Gottes“ (AA V, 226).[12]
Soweit Kant. In dieser Konzeption sahen und sehen bis heute Viele zeitbedingte theologische Restbestände in Kants Ethik. Sie erscheinen als ein Indiz dafür, daß es der „Alleszermalmer“ Kant, wie Moses Mendelssohn ihn ja genannt hat, am Ende doch nicht gewagt habe, die rationale Theologie der Metaphysik ganz beiseite zu lassen. Und so erscheint Vielen bis heute die Lehre vom Postulat der Existenz Gottes als eine Verlegenheitslösung, die kaum ernst zu nehmen sei und die von dem Kernbestand der Kantischen Vernunft-Ethik ohne Schaden abgelöst werden kann.
Diese Meinung übersieht jedoch oder unterschätzt die Problemlage, auf die Kants Überlegung reagiert. Sie ist aufs engste mit der conditio humana verbunden und sucht ihr gerade unter der Leitung eines aufgeklärten Vernunftbegriffs gerecht zu werden. Unter dieser Perspektive lässt sich nämlich das Folgende sagen – und damit komme ich zum Schluß meiner Überlegungen: Für die Moralität unserer Absichten können wir selber sorgen, wenn wir es wirklich wollen.13 Für das Gelingen eines Lebensentwurfs und unser Wohlergehen und für die gerechte Verteilung von Glück in der Welt können wir nicht in allen Stücken selber sorgen. Da spielt der Zufall und der Lauf der Welt, der nicht zu antizipieren ist, hinein. Damit ein auf Moralität angelegtes Leben am Ende vielleicht auch ein glückliches Leben werden kann, dazu sind wir auf so etwas wie eine Gunst angewiesen, die uns von dem, was nicht in unserer Gewalt steht, gleichsam erwiesen wird. Sofern wir aber unser Glück im Auge haben, hegen wir auch die Hoffnung, ja, wir vertrauen darauf, daß es uns zuteil werden kann und uns nicht ganz im Stich läßt. Damit aber hegen wir die Hoffnung auf eine Entsprechung zwischen unseren moralischen Intentionen und unseren Glückserwartungen. Und damit hegen wir auch die Hoffnung, daß die Welt, in der wir leben, uns nicht wie Dantes Hölle mit dem Ruf zurückweist: „Lasciate ogni spiranza!“ – Laßt alle Hoffnung fahren! Die Hoffnung geht vielmehr dahin, wie Kant es in seiner ästhetischen Theorie ausgedrückt hat, daß der Mensch „in die Welt passe“ (AA XVI, 127).[13] Die Erfahrung von Glück und damit auch die Aussicht auf die Erfahrung von Glück in einem auf das Ganze eines Lebens gerichteten Sinne scheint mit der Erfahrung von Schönem analog zu sein: Hier wie dort wird eine Harmonie von heterogenen Elementen erfahren bzw. intendiert, die wir nicht selbst bewirkt haben, die sich wie von selbst einstellt und uns eben dadurch beglückt – wie man ja auch sagt. Darauf reagiert Kants Überlegung. Sie verdankt sich dem Gedanken, daß wir für das, was nicht in unserer Macht steht, was uns begegnet und auf dessen Eintreten wir nur hoffen – oder auch vertrauen – können, auf das wir unser Leben aber bauen, daß wir dafür, wenn wir uns hierbei nur selber ernst genug nehmen, einen Grund annehmen bzw. uns denken müssen, ohne den diese Hoffnung völlig sinnlos wäre.
Eine solche Hoffnung ist nicht, wie man es von seiten eines vermeintlich aufgeklärten Weltbürgers wohl hören könnte, nur eine fromme – und das heißt, eine bloß subjektive, aber nicht rational einholbare Hoffnung. Das Gegenteil ist der Fall: Diese Hoffnung ist vielmehr von einem Gedanken getragen, der ein Gedanke der Vernunft ist. Und mit diesem Gedanken bewältigt sie die von Habermas so genannte „kognitive Herausforderung“,[14] die an die aufgeklärte Philosophie von seiten der Religion herangetragen wird. Denn die Funktion der Vernunft ist es, letzte Gründe anzugeben, aus denen das bewusste Leben sich als Ganzes in seinem Weltverhältnis begreifen kann. Genau darin liegt die Stärke des kantischen Vernunftbegriffs: Er trägt dem Ausgriff auf ein Ganzes Rechnung, und er trägt der damit notwendig verbundenen Hoffnung Rechnung, dass dieser Ausgriff nicht ins Leere geht, sondern an sein Ziel kommt, und das heißt, das unser Leben ein insgesamt gelungenes Leben sein möge. Daß der Focus dieser Hoffnung auf eine Instanz zielt, von der angenommen wird, dass sie unabhängig von uns für sich existiert, das ist nur Zeichen und Ausdruck des Bewusstseins der Kontingenz und Endlichkeit unseres Lebens und der Unverfügbarkeit seines Gelingens, auf das wir gleichwohl rechnen. Mit Blick auf Jürgen Habermas’ Plädoyer für „eine Lernbereitschaft der Philosophie gegenüber der Religion“16 wäre am Ende daher mit Kant zu sagen, dass eine kritische Philosophie, die sich in der Tradition der Aufklärung versteht, sich gegenüber der Religion gar nicht erst lernbereit verhalten muß. Sie hat nur ihren eigenen Begriff in seine letzten Konsequenzen zu entfalten. Dann gelangt sie zu jenem Weltbegriff der Philosophie. Er enthält selber den zureichenden Grund, der das Unverfügbare, das die menschliche Existenz aufgrund ihrer Kontingenz und Endlichkeit wie ein Schatten begleitet und von dem sie auch unter den Bedingungen einer fortgeschrittenen Säkularisierung nicht loskommt, mit der Einheit eines Sinnzusammenhangs in Übereinstimmung bringt, ohne es aufzulösen. Das sieht Habermas nicht. Das ist aber der Sinn von Religion unter den Bedingungen der Moderne, und das ist vielleicht die einzig rational vertretbare Theodizee angesichts der Übel in der Welt – und das ist am Ende wohl auch das, was wirklich jedermann notwendig interessiert.
[1] J. Habermas: Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt a. M. 2001, 9–31.
[2] Vgl. J. Habermas: Zur Diskussion mit Kardinal Ratzinger, in: Information Philosophie, Oktober 2004, 7 –15 (im folgenden zit. als Habermas, Zur Diskussion, mit Angabe der Seitenzahl), u. ders.: Die Grenze zwischen Glauben und Wissen. Zur Wirkungsgeschichte und aktuellen Bedeutung von Kants Religionsphilosophie, in: Recht-Geschichte-Religion. Die Bedeutung Kants für die Gegenwart. Hg. v. H. Nagl-Docekal u. R. Langthaler, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 9, 141-160.
[3] Vgl. Habermas, Zur Diskussion, 12.
[4] Kants Kritik der reinen Vernunft wird nach der 2. Auflage unter der üblichen Abkürzung B und Angabe der Seitenzahl zitiert. Kants Werke werden nach der Akademieausgabe unter der Abkürzung AA mit Angabe der Band- und Seitenzahl zitiert.
[5] Zu Kants Verwendung der Formel „Bestimmung des Menschen“ vgl. AA VIII, 18 f., 24-28; AA V, 298-303; AA VI, 267f., 50, 162; AA VII, 321 ff. u. AA IX, 447.
[6] Vgl. Kants Erklärung: „ Der erste [d.h. der Endzweck der menschlichen Vernunft – J. S.] ist kein anderer, als die ganze Bestimmung des Menschen, und die Philosophie über dieselbe heißt Moral.“ (B 868)
[7] Zu Kants Begriff der Idee vgl. B 369ff. Zum Begriff der Welt als einem Grundbegriff der Philosophie der Neuzeit vgl. neuerdings Ch. Bermes: „Welt“ als Thema der Philosophie. Vom metaphysischen zum natürlichen Weltbegriff, Hamburg 2004.
[8] Den Gegenstand dieser Idee einer moralischen Welt bezeichnet Kant auch als einen „corpus mysticum der vernünftigen Wesen in ihr [d. h. der Sinnenwelt – J. S.], sofern deren freie Willkür unter moralischen Gesetzen sowohl mit sich selbst, als mit jedes anderen Freiheit durchgängige systematische Einheit an sich hat.“ (B 836)
[9] Vgl. hierzu O. Höffe: „Königliche Völker“. Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie, Frankfurt a. M. 2001.
[10] Vgl. hierzu B. Himmelmann: Kants Begriff des Glücks, Berlin/New York 2003 (im folgenden zitiert als Himmelmann, Glück, mit Angabe der Seitenzahl).
[11] Vgl. AA V, 107ff.
[12] Zu Kants Postulat der Existenz Gottes hat Ulrich Barth eine detaillierte Rekonstruktion des Argumentationsgangs vorgelegt in U. Barth: Die religiöse Selbstdeutung der praktischen Vernunft. Kants Grundlegung der Ethikotheologie, in: ders.: Gott als Projekt der Vernunft, Tübingen 2005, 263 – 307, hier: 286ff. Zur kantischen Postulatenlehre vgl. ferner P. Guyer: In praktischer Absicht. Kants Begriff der Postulate der reinen praktischen Vernunft, in: Philosophisches Jahrbuch, Bd. 104, 1997, 1 –18. 13 Vgl. hierzu Himmelmann, Glück, 219.
[13] Vgl. hierzu B. Recki: „Was darf ich hoffen?“ Ästhetik und Ethik im anthropologischen Verständnis bei Immanuel Kant, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 19 (1994), 1-18 u. dies.: Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft bei Kant, Frankfurt a. M. 2001.
[14] Habermas, Zur Diskussion, 12. 16 Habermas, Zur Diskussion, 13.