Prof. Dr. Nelly Wassiljewna Motroschilowa (Moskau), Gründungsmitglied unserer Gesellschaft FREUNDE KANTS UND KÖNIGSBERGS e.V., ist in der Nacht vom 23. Juni 2021 gestorben. In ihrem letzten Lebensjahr hat sie an den Folgen eines Schlaganfalls leiden müssen, aber sie war geistig klar und arbeitete, solange sie noch konnte.
Sie hatte Philosophie studiert, war über sechzig Jahre lang am Philosophischen Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau tätig und leitete dort jahrzehntelang das Institut für die Geschichte der Philosophie. Das erlaubte ihr, sich schon zu Sowjetzeiten mit Themen jenseits der offiziellen Ideologie des Marxismus-Leninismus zu beschäftigen, hauptsächlich mit der klassischen deutschen Philosophie, insbesondere mit der Philosophie Immanuel Kants. Sie wurde zur führenden Kantforscherin der Sowjetunion und später Russlands. Die Werke Kants las sie im deutschen Original. 1994 gab sie zusammen mit dem Marburger Philosophieprofessor Burkhard Tuschling den ersten Band der zweisprachigen deutsch-russischen Kant-Ausgabe heraus, dem danach noch sechs weitere Bände mit den Hauptwerken Kants folgten.
Ihr Vater war Schullehrer gewesen, hatte auch Deutsch gelernt und fiel 1942 im Kampf gegen die deutsche Wehrmacht, als sie acht Jahre alt war. Ihr Großvater, erzählte sie, habe sie zu Beginn ihres Studiums gefragt, warum sie denn deutsche Philosophie studieren wolle, obwohl die Deutschen ihren Vater und zwei seiner Brüder getötet hätten. Ihre Großmutter, eine einfache, aber kluge Frau, habe ihm widersprochen: Die Deutschen hätten sich jahrhundertelang mit Philosophie beschäftigt, aber das „Dritte Reich“ habe nur zwölf Jahre gedauert.
1974 kaufte ich mir im damaligen Ostberlin einen Sammelband mit Beiträgen zur Philosophie Immanuel Kants mit dem Titel Revolution der Denkart oder Denkart der Revolution. Er war aus Anlass des 250. Geburtstags Kants erschienen und enthielt Beiträge von Philosophen aus der DDR und der UdSSR, darunter auch von Nelly Motroschilowa, doch mit ihrem Namen konnte ich damals noch nichts anfangen. Dreißig Jahre später, am 12. Februar 2004, lernte ich sie persönlich kennen, und zwar in Kaliningrad bei einer internationalen Konferenz zum 200. Todestag des Königsberger Philosophen. Bei einem Konzert im Deutsch-Russischen Haus saß ich neben ihr; wir kamen ins Gespräch. Sie lud mich zu dem von ihr organisierten internationalen Kant-Kongress vom 24. – 28. Mai 2004 nach Moskau ein; auf diese Weise kam ich zum ersten Mal in die Hauptstadt Russlands. Silvester 2006 feierten wir gemeinsam in Marbella mit einigen ihrer russischen Freunde und Bekannten. In den folgenden Jahren haben wir viel zusammen unternommen. Statt eines offiziellen Nachrufs im Namen unserer Gesellschaft will ich hier einige persönliche Erinnerungen an sie aufschreiben und sie deswegen nicht mehr „Nelly Wassiljewna“, sondern einfach „Nelly“ nennen.
Im August 2007 war ich drei Wochen lang bei ihr zu Gast in Moskau und auf ihrer Datscha in der Nähe von Sergijew Possad. Im Institut für Philosophie der Russischen Akademie der Wissenschaften erlebte ich, wie sie dort von allen verehrt wurde, als Philosophin und als eine Art Mutter des Instituts. Ich hatte schon seit Jahren – langsam und nicht sehr intensiv – Russisch gelernt, aber erst sie hat mir die russische Kultur, Literatur und Philosophie nahegebracht. Vor einer Zugfahrt nach Jasnaja Poljana, dem ehemaligen Wohnsitz Leo Tolstois, gab sie mir Tolstois Erzählung Der Tod des Iwan Iljitsch zu lesen und interpretierte diese anhand von Gedanken in G.W.F. Hegels Phänomenologie des Geistes über den Unterschied zwischen der persönlichen Moralität und der gesellschaftlichen Sittlichkeit. Ich sagte ihr, dass ich Arthur Schopenhauer vorziehe, der Hegel nicht ausstehen konnte. Sie hielt dagegen Hegel für bedeutender als Schopenhauer und sagte, sie könne das beurteilen; in Russland gebe es kaum jemanden, der Hegel so gut kenne wie sie. Trotz ihrer Vorbehalte gegenüber Schopenhauer schrieb sie für mich mit der Hand einen Brief Tolstois vom 30. August 1869 an den russischen Dichter Afanassi Fet ab, in dem Tolstoi berichtete, er habe den ganzen Sommer hindurch Schopenhauer gelesen und halte ihn für den genialsten aller Menschen. Das Blatt liegt seitdem bei mir in einer Ausgabe der Erzählungen Tolstois.
In Jasnaja Poljana kaufte sie sich die Erinnerungen von Tatjana Kusminskaja, der Schwester von Tolstois Frau Sophia, und las sie sofort durch. Darin zitiert Kusminskaja Tolstoi mit den Worten, das Leben sei ein Schlaf und der Tod ein Erwachen zu einem neuen Leben. In den Anmerkungen dazu wird erklärt, Tolstoi habe in Wirklichkeit gesagt, man könne das Leben so ansehen. Nelly sagte, das sei leider nicht so; der Tod sei das unvermeidbare Ende des Lebens; das habe sie während der Krankheit und des Sterbens ihres Mannes erfahren, mit dem sie 27 Jahre lang glücklich verheiratet war. Ich sagte, wenn jeder sterben müsse und danach nichts mehr komme, dann sei er ja auch frei, im Leben Gutes oder Böses zu tun. Sie widersprach; es gebe das moralische Gesetz Kants, auch wenn dieses zu hoch angesetzt und in seiner reinen Form nicht zu verwirklichen sei.
Die Memoiren der Kusminskaja hatten ihr neue Einblicke in Tolstois Leben gegeben. Sie kritisierte die Art, wie Tolstoi Prinzipien auf das Leben angewandt und auch seine Familie gezwungen habe, nach seinen abstrakten Prinzipien zu leben, und stellte sich ganz auf die Seite von Sophia Andrejewna, Tolstois Frau, die ihre Familie und das wirkliche Leben verteidigt habe.
Auf der Datscha lernte ich ihren Sohn, ihre Schwiegertochter und ihren damals 17jährigen Enkel kennen. Ich gratulierte ihm zu seiner berühmten Großmutter und fragte, ob er etwas von ihr gelesen habe. Das hatte er nicht und hatte es auch nicht vor; für ihn, sagte er, sei sie einfach seine „Babuschka“. Die Babuschka ist die Hauptperson in einer russischen Familie und hat das letzte Wort; auch diese Rolle füllte Nelly hervorragend aus.
Schon zu sowjetischen Zeiten schrieb sie Bücher über die Phänomenologie Edmund Husserls, der damals in der Sowjetunion noch unbekannt war, später dann Bücher über Martin Heidegger und Hannah Arendt, über das Verhältnis zwischen der russischen und der westlichen Philosophie, Lehrbücher, die Generationen von Studenten als Standardwerke dienten, und vieles mehr. Sie schrieb alles mit der Hand, in ihrer deutlichen, schönen russischen Handschrift. Ich war einmal dabei, als sie in einer der großen Moskauer Metrostationen einer Frau im Gewühl der Menge einen Packen handbeschriebener Blätter übergab, die diese abtippen sollte.
Im September 2008 flogen wir beide nach Athen und nach Rethymno, wo sie auf Einladung der Universität Kreta einen Vortrag über Kant hielt. In Athen wollte sie mit mir zu der Stelle fahren, wo Platons Akademie gestanden hatte, doch niemand war in der Lage, uns zu sagen, wie wir dort hingelangen konnten. Schließlich fuhren wir mit dem Taxi; auf einem historischen Stadtplan von Athen zeigte ich dem Taxifahrer die Stelle, die er sonst nicht gefunden hätte. Wir kamen zu einem kleinen, verwahrlosten Park ohne jeden Hinweis auf Platon. Eine Frau, die dort ihren Hund ausführte, schien den Namen Platon noch nie gehört zu haben. Schließlich sah ich in einem Gebüsch versteckt ein kleines Schild mit einer Inschrift nur auf Griechisch, hier habe sich Platons Akademie befunden. Nelly war entsetzt über diese Missachtung Platons. Es bedeutete ihr viel, an derselben Stelle zu stehen, wo der größte Philosoph der Antike gelebt und gelehrt hatte.
Von April bis Juni 2011 hielt sie sich auf Einladung der Alexander von Humboldt-Stiftung in Berlin auf. Hier lernte sie mehrere Mitglieder unserer Gesellschaft kennen, mit denen ein freundschaftlicher Kontakt entstand. Am 15. Juni 2011 führte sie im Rahmen der ersten öffentlichen Veranstaltung unserer drei Monate zuvor gegründeten Gesellschaft ein Podiumsgespräch mit Prof. Dr. Monique Castillo über das Thema „Warum die heutige Welt die Ideen Immanuel Kants beachten sollte“: hier. Was sie während ihres Berlinaufenthalts (z. T. gemeinsam mit mir) unternommen hat, kann hier nicht berichtet werden, nur eines: Einen großen Eindruck machte auf sie das Doku-Drama Heinrich Breloers über die Familie Mann, das wir zusammen ansahen. Darin gefiel ihr besonders die aus einfachen Verhältnissen stammende, etwas vulgäre Frau Heinrich Manns, die denselben Namen trug wie sie: Nelly. Sie war ganz gerührt, als wir auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof das Grabmal Heinrich Manns fanden und darunter eine Tafel zum Gedenken an seine Frau Nelly, die in Santa Monica, Kalifornien, beigesetzt ist.
2014 kam sie zu den von uns veranstalteten Kant-Tagen nach Kaliningrad/Königsberg und hielt dort am 290. Geburtstag Kants am 22. April in der Kant-Universität einen Vortrag über das Thema: Immanuel Kant: Alltäglichkeit, Tischgesellschaft in Einheit mit der Philosophie in der Epoche der Aufklärung. Der Gedanke, dass unsere Gesellschaft FREUNDE KANTS UND KÖNIGSBERGS die Fortsetzung der Tischgesellschaft Immanuel Kants sei, begeisterte sie. Als ich aber einmal sagte, ich wolle in Königsberg zerstörte Traditionen wiederbeleben, entgegnete sie, ich sei ein Aufklärer und wolle andere Leute belehren; darauf solle ich verzichten.
Im Jahr 2015 war sie einen ganzen Monat lang wieder in Berlin und wohnte bei mir. Genau in dieser Zeit fand am 24. September eine Sitzung der Arbeitsgruppe Bildung und Wissenschaft des Petersburger Dialogs in Moskau statt, zu der ich eingeladen war. Sie half mir bei der Finalisierung eines Vortrags über die Vorbereitungen auf den 300. Geburtstag Kants, den ich dort gehalten habe hier. Als sie sich nach ihrem letzten Berlin-Besuch am 6. Oktober 2015 von mir verabschiedete, sagte sie, sie werde mich in Russland immer unterstützen. Das hat sie auch getan. Zum letzten Mal sah ich sie in Moskau im Dezember 2017, wo ich auf Einladung des Philosophischen Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften, die sie vermittelt hatte, unsere Gesellschaft präsentierte. Auch wenn wir uns längere Zeit nicht treffen konnten, waren wir doch immer in Kontakt, denn wir telefonierten oft miteinander. 2020 wollte ich sie wieder in Moskau besuchen, aber das war wegen der Corona-Pandemie nicht möglich.
Ich erwähne hier noch einige Beispiele dessen, worüber wir im Laufe der Jahre gesprochen haben, über Themen, die sie bewegten und beunruhigten. Sie klagte darüber, dass man in Deutschland nur wenig von Russland wisse und sich auch nicht dafür interessiere; ich sei insofern eine Ausnahme, auch weil ich Russisch lernte. Sie hatte einen deutschen Professor getroffen, den Vorsitzenden einer wichtigen philosophischen Vereinigung, der nicht wusste, wer Pjotr Kropotkin war, und das auch nicht wissen wollte. In den letzten Jahren hatte sie immer mehr den Eindruck, in den deutschen Medien breite sich eine Art von Russophobie aus.
Sie sprach einmal von dem „als ob“-Dialog, wie es ihn in Russland und z. T. auch in Deutschland gebe: Die Politiker täten so, als wollten sie mit den Bürgern einen Dialog führen; in Wirklichkeit fällten sie ihre Entscheidungen, ohne deren Meinungen zu beachten und ohne Rücksicht auf die Bürger. Sie war der Ansicht, Russland sei durch und durch korrupt; das sei über die Jahre immer schlimmer geworden. In ihrem Buch Цивилизация и Варварство в эпоху глобальных кризисов (Zivilisation und Barbarei im Zeitalter globaler Krisen) hat sie Vorschläge gemacht, wie man die Korruption bekämpfen könne: Alle Staatsbeamten, auch die ehemaligen, müssten ihre gesamten Einkünfte regelmäßig offenlegen. Sie sprach sich darin auch für eine neue Partei aus, noch mehr: für eine erneuerte Zivilgesellschaft. Schuld an Korruption und Machtmissbrauch sind nach ihrer Ansicht nicht nur die Herrschenden, sondern auch das Volk, das sich auf diese Verhältnisse einlasse. Sie glaubte nicht an einen linearen Fortschritt, sondern betrachtete die Barbarei als die andere Seite der Zivilisation, wobei sich beide gleichmäßig entwickeln. In den meisten Fällen komme die Barbarei dadurch zum Ausdruck, dass Individuen ohne Rücksicht auf das Ganze ihre eigenen Interessen mit zivilisationsfeindlichen Mitteln durchzusetzen versuchten. In ihrem Buch fragt sie und stellt fest:
Was genau hat sich in der Gegenwart verändert? Die Bevölkerung vieler Länder und Regionen der Erde ist in eine Situation versetzt worden, in der sie massenhaft, bewusster und zielgerichteter als je zuvor in der Geschichte und ganz praktisch als geeinte Menschheit arbeiten muss und teilweise auch schon arbeitet.
Das ist ganz im Sinne Kants gedacht. Wie sie oft gesagt hat, glaubte sie an die „nicht-offizielle Gemeinschaft“ anständiger, gebildeter Menschen, die es zu allen Zeiten und unter allen Verhältnissen gab, auch in ihrer Jugend zu Stalins Zeit. Wenn sie auch keinem Fortschrittsglauben huldigte, so zeigte Nelly Motroschilowa doch die Möglichkeit auf, dass solche Menschen durch Zusammenarbeit die Lage der Menschheit verbessern können.
Zum Abschluss meiner Bemerkungen über Nelly Motroschilowa will ich noch drei Zitate Leo Tolstois aus seinem Werk Der Weg des Lebens (Путь жизни) bringen, mit denen sie, glaube ich, wohl einverstanden wäre:
Wer den Sinn des Lebens in der geistigen Vervollkommnung sieht, kann nicht an den Tod glauben – daran, dass diese Vervollkommnung abgebrochen wird. Das, was sich vervollkommnet, kann nicht zerstört werden; es verändert sich nur.
Ich erinnere mich an nichts von mir vor meiner Geburt und deshalb denke ich, dass ich mich auch nach meinem Tod an nichts von meinem jetzigen Leben erinnern werde. Wenn es ein Leben nach dem Tode gibt, wird es eines sein, das ich mir nicht vorstellen kann.
Dem Sterbenden wird im Augenblick des Todes etwas enthüllt. “Ah, so ist das also!” – sagt fast immer der Gesichtsausdruck des Sterbenden. Wir, die wir bleiben, können nicht sehen, was ihm enthüllt wurde. Für uns wird das später enthüllt werden, zu seiner Zeit.
Wie jeder Mensch musste auch Nelly Motroschilowa den letzten Teil ihres Lebensweges allein gehen. Sie konnte uns ihre letzten Erlebnisse und Erkenntnisse nicht mitteilen. Aber ich bin sicher, dass sie bis zum Schluss Philosophin war. Arthur Schopenhauer hat im Zweiten Band seines Hauptwerks Die Welt als Wille und Vorstellung in Kapitel 41, Ueber den Tod und sein Verhältniß zur Unzerstörbarkeit unsers Wesens an sich, geschrieben:
Der Tod ist der eigentliche inspirirende Genius oder der Musaget (Wegweiser) der Philosophie, weshalb Sokrates diese auch θανατου μελετη (Vorbereitung auf den Tod: Platon, Phaidon. P. 81 A) definirt hat. Schwerlich sogar würde, auch ohne den Tod, philosophirt werden.
Verzeih, Nelly, dass ich nun doch noch mit Schopenhauer komme. Über das Zitat hätten wir schön diskutieren können, wie wir es so oft getan haben. Das geht nun nicht mehr, aber in meinen Gedanken, liebe Nelly, setze ich das Gespräch mit Dir fort. Erst jetzt, als ich im Internet nach Deinen Spuren suchte, fand ich die Aufzeichnung eines Gesprächs mit Dir im Rahmen des Projekts „Mündliche Geschichte“ (Устная история): hier. Ganz am Ende sagst Du da, wie wichtig es für uns sei, die Kultur der Erinnerung an die Verstorbenen zu besitzen. In diesem Sinne werde ich immer an Dich denken.
Berlin, 26. Juni 2021
Gerfried Horst