Die Kaliningrader Kultur unterscheidet sich von der Mehrheit anderer russischer Regionen dadurch, daß sie von ihren historischen Wurzeln abgetrennt ist: bevor sich hier der Kaliningrader Oblast bildete, bestand auf diesem Stück Erde 700 Jahre lang die deutsche Kultur mit den ihr eigenen beständigen Traditionen. Wie der bekannte Kaliningrader Historiker Juri Kostjaschow bemerkte, „…haben die Kaliningrader in 1945 mit ihrer Geschichtsschreibung bei Null angefangen und dabei ein spezifisches, größtenteils verformtes Geschichtsbewußtsein gewonnen...“. Die Wendung zur historischen Vergangenheit unserer Erde erfolgte in verschiedenen Zeitperioden der Geschichte des Kaliningrader Gebietes, aber ein wohlüberlegtes, systematisches Programmvorgehen begann erst mit der Perestrojka, als sich die Ideologie der Aneignung und Aufrechterhaltung des kulturellen Nachlasses sowohl bei uns, als auch insgesamt im Lande änderte.
Historisch und kulturell gesehen, ist es der große Name Kant, der Königsberg mit Kaliningrad verbindet. Nicht einmal in den ideologisierten sowjetischen Zeiten konnte der Name Kants verboten werden. Der bekannte Philosoph und Kant-Forscher Leonard Kalinnikow sagte: „Das Phänomen Kant hat das Königsberg-Kaliningrad zu einer vollkommen besonderen Stadt gemacht. Kant beherrscht das Schicksal von Königsberg auf seine eigene besondere und einmalige Art. Weder Herder noch Hoffmann noch Hamann noch Hippel noch ein anderer berühmter Königsberger könnte je seinen Platz annehmen. Sie alle ungeachtet der Zeit, ob sie seine Zeitgenossen waren, vor ihm oder nach ihm hier lebten, sie alle existieren in seinem Schatten. Der Geist von Kant bildet das Antlitz dieser Stadt und bewahrt es auf. Es ist Aufbau und Aufbewahrung im direkten und im übertragenen Sinne“. Dank dem Kant-Grab, das sich an den verfallenen Mauern des Königsberger Domes, eines Denkmalbaus aus dem XIV Jhdt., befindet, wurde dieses Architekturdenkmal über die 70er Jahre hinweggerettet und in den 90er Jahren wiederaufgebaut. Es hätte sonst das Schicksal des Königsschlosses wiederholt, das in den 60er Jahren gesprengt wurde.
Professor Leonard Kalinnikow bemerkt, daß die Stadt die Rückkehr des Gedächtnisses über ihre Königsberger Vergangenheit eben ihm, Immanuel Kant verdanke. Die ersten Kant-Lesungen in 1974 markieren einen wichtigen Punkt in der Aneignung der geistigen Erbschaft der deutschen Kultur und den Beginn einer neuen Tradition. Die offizielle Genehmigung für die Durchführung von Lesungen gab den Start zu einem neuen Verhältnis zur Vorkriegsgeschichte der Region. Die Gründung eines „Kant-Kabinetts“ in der Universität, wo Philosophen, Historiker, Künstler, Lehrkräfte der Universität und alle, die sich für Geschichte, Philosophie und Kultur interessierten, frei verkehrten und miteinander kommunizierten, wurde ein wichtiges Ereignis im kulturellen Leben von Kaliningrad.
Ein Kulturereignis hat mit dem Kulturgedächtnis zu tun, welches als „eine Struktur zum Festhalten der Vergangenheit in der Gegenwart, die auf den Aufbau des Kulturraum- und –zeitkonstruktes ausgerichtet ist, dessen Sinn durch die Differenz zwischen der Erinnerung und dem Vergessen gegeben“ wahrgenommen wird. Die Vergangenheit und die Gegenwart werden im Rahmen eines Kulturereignisses vereinigt, verschiedene Kulturschichten werden auf eine Dimension gebracht mittels Kulturgedächtnis.
Wir werden den Versuch unternehmen, durch verschiedene Kulturereignisse auf der Zeitschiene von über 40 Jahren das Thema der Reise in Raum und Zeit mit Immanuel Kant auszubreiten, wir werden ein Modell des Kant-Chronotopes präsentieren.
Der Schriftsteller Juri Iwanow, Vorsitzende der Kaliningrader Abteilung des Sowjetischen, später Russischen Kulturfonds hat eine herausragende Rolle beim Aufbau von vielen lokalen und internationalen Kulturereignissen in der aktuellen Etappe der regionalen Geschichte gespielt. Als im Jahr 1987 der Kulturfonds gegründet wurde, hat er eine Reihe von Kulturprogrammen zur Erschließung der kulturellen Erbschaft initiiert, zum Beispiel das Kant-Programm, das Hoffmann-Programm, das Puschkin-Programm. Als die wirksamste Aufklärungsform hat sich der Diskussionsklub namens „Geschichte – Ökologie – Kultur“ erwiesen, der zahlreiches Publikum in den Saal des Kaliningrader regionalen Puppentheaters lockte. In den Klubsitzungen wurden Themen der Landesforschung erörtert, hier konnte man von den Kennern viele interessante und wenig bekannte Tatsachen aus der Vergangenheit der Kaliningrader Erbe hören. Auf seine Initiative und unter seiner Beteiligung wurde 1988 ein einzigartiger Filmnamens „Gestalten der Stadt Kants“ vom Leningrader Filmstudio „LenNautchFilm“ geschaffen.
Als im August 1989 die geborene Königsbergerin Marion Gräfin Dönhoff Kaliningrad besuchte, wurde die Idee geboren, das Kant-Denkmal wiederherzustellen, welches im XIX Jahrhundert von Bildhauer Christian Rauch gegossen, in Königsberg aufgestellt und später verschollen wurde. Die Wiedereinweihung des Denkmals fand 1992 statt, ermöglicht wurde es durch deutsche Spenden, durch Fördermittel von der „Zeit-Stiftung“ sowie dank aktiver Beteiligung von Kaliningrader städtischen und regionalen Behörden an dieser Arbeit.
1994 wurde das 450. Jubiläum der Albertina Universitätsgründung gefeiert, die deutsche Seite hat aktiv daran teilgenommen, außerdem wurde das Buch von Professor Kasimir Lawrinowitsch veröffentlicht, welches damals die Hauptinformationsquelle zur Landesgeschichte wurde.
Das 750. Jubiläum der Stadt im Jahr 2005 bedeutete eine systematische und tiefergehende Arbeit zum Verständnis des historischen Erbes. Im Kontext der Vorjubiläumsereignisse erfolgte ein Wechsel der Kulturmerkmale und –zeichen. Die Kathedrale auf der Kant-Insel, ein Stadtsymbol, das fest im Bewußtsein der Kaliningrader verankert war, tritt zurück, denn das Königstor tritt in den Vordergrund, der Hauptschauplatz der Festivitäten, ein Ort, an dem sich der russische Präsident Wladimir Putin mit den europäischen Staatsoberhäuptern am 1. bis 3. Juli getroffen hat. Dazu wurde das Königstor, dieses erhaltene Teil des Befestigungsgürtels rund um das historische Königsberg, restauriert. Ein Tapetenwechsel vollzieht sich in der Stadt. Offensichtlich leben Kaliningrader nach dem 3. Juli 205 in einer anderen Stadt mit einem anderen Status und mit einer klar umrissenen europaorientierten Zukunft. Das begreifen wir umso mehr jetzt im Vorfeld der Vorbereitung auf die 300-Jahresfeier von Immanuel Kant im Jahr 2024.
Nach der 750-Jahresfeier der Stadt hat der Kaliningrader regionale Kulturfonds den Klub „Bohnenkönig“ initiiert. Diese Königsberger Tradition, die nach dem Tod von Immanuel Kant entstanden war, wurde mit dem Ziel wiederbelebt, einen Kulturraum für engagierte Menschen zu schaffen, aktuelle Kulturideen zu generieren und zu verwirklichen. So wurde eine Brücke zwischen den Jahren 2005 und 2024 aufgebaut, vom 750. Stadt-Jubiläum zum Kants Geburtstag. Der gesuchte Kulturraum wird durch entsprechende Begegnungen geschaffen, ich erwähne hier „Ein Abendessen mit dem Bohnenkönig“, „Die Stadt vom Jubiläum 2005 zum JUbiläut 2024“; „Architektur als ein Kulturzeichen“, „Literatur als Prozess und Zustand“, „Identität als Ressource“, „Von der Philosophie zur Philotopie, oder Wer sind die Genii Loki?“, „Die Stadt als Wunschgedanke und Realität, was ist es für uns?“, „Kant und Kant-Brandname“, um nur einige zu nennen. Das Gästehaus Albertina unter Mitwirkung von Boris Bartfeld wird zum Zentrum dieser Begegnungen.
Diese neubelebte Kaliningrader Tradition erweckte Aufmerksamkeit seitens Kants Freunde in Deutschland und anderen europäischen Ländern, Herr Gerfried Horst arbeitet seit mehr als 10 Jahren dafür, er organisiert die gemeinsamen Treffen in Kaliningrad, die jährlich am 22. April, dem Geburtstag von Immanuel Kant in unserer Stadt stattfinden. Zu Beginn dieser Arbeit hat ihn der erste Dombaumeister, Direktor der Kathedrale Igor Odintzow in vielerlei Hinsicht unterstützt, heute tun das die Domleiterin Vera Tariverdieva und ihre Kolleginnen und Kollegen.
Immanuel Kant ist eine Galionsfigur für das kulturelle Bewußtsein von Kaliningradern, auch jenen, die seine Philosophie nicht kennen, er bestimmt maßgeblich die museale Schöpfung, ihre Themen und Ausrichtungen. Eine Hommage an sein 270.Jubiläumsjahr wurde die Mailart-Ausstellung im Museum für Geschichte und Kunst, sie fand 1994 statt und hieß „Perfo-Ratio-Kants“. Diese Ausstellung wurde in einer deutschen Zeitschrift „Einbecker Kunstblatt“ (Jahrgang 1994, Ausgabe Nr. 2) zum internationalen Ereignis des Jahres gekürt. Marc Cheetham, Kunstwissenschaftler der kanadischen Universität Toronto widmete diesem Projekt ein großes Teil in seinem Buch „Kant, Kunst und die Kunstgeschichte“.
Der Kontext des Projektes wurde eine Selbstrelativierung in Raum und Zeit mit der ganzen Welt, Reflexionen darüber, wer wir auf dieser Erde sind, die die Problematik der kulturellen Identität widerspiegeln, welche für Kaliningrader Kultur von großer Bedeutung ist.
Ein weiteres Event, die Ausstellung „Ein Abendessen mit Kant“, in Form einer imaginären Abendtafel gestaltet, fand im Museum für Geschichte und Kunst im Jahre 2008 statt, acht Künstler haben daran teilgenommen. Immanuel Kant wurde als neunter Gast dazu imaginiert. Jeder Projektteilnehmer konnte sein eigenes Verhältnis zu Kant aufbauen, mittels kreativer Künstlergriffe die Vergangenheit der Stadt aktualisieren, das Reelle mit dem Symbolischen verbinden.
1995 fand in der regionalen Kunstgalerie eine Kant gewidmete Ausstellung statt, die Expositionsfläche umfaßte etwa 1000 qm, ein großer Saal, wo verschiedenartige Genres und Kunstverfahren präsentiert wurde, alle durch das besagte Thema vereint.
Im für die Stadt wichtigen Jubiläumsjahr 2005 fand das Thema Kant ihre Fortsetzung in der Ausstellung des Künstlerpaares Jurij und Nelly Smirnjagin, das Projekt hieß „Kant – Königsberg – Kaliningrad“ und wurde in den Ausstellungsräumen der Kaliningrader staatlichen Universität sowie im Museum für Weltozean ausgestellt. Ein Teil der Außenfläche des Museums für Weltozean ist mit dem Namen Kant verbunden, es ist der „Philosophenpfad“ mit einer Kant gewidmeten Plastik und einigen Artefakten der alten Stadt, darunter die sogenannte „Kant-Sitzbank“. Zur Zeit wird im Museum für Weltozean ernsthaft an der Vorbereitung eines Projektes zum Kant-Jubiläum gearbeitet.
Das Thema Kant wird heute aktueller denn je in Verbindung mit der Vorbereitung zum 300. Jahrestag von Immanuel Kant im Jahr 2024. Im vorigen Jahr wurde dieses Thema im Kulturbeirat beim Gouverneur der Region erörtert, ein Maßnahmenplan aufgestellt, eine internationale Arbeitsgruppe soll gebildet werden. Die Restaurierungsarbeiten in der Siedlung Wesselowka, eine Filiale der Kathedrale, wurden vollbracht, es ist ein Ort, wo Kant als Lehrer wirkte, weitere Kant-Routen sind in Arbeit. Im Dom wird gerade das Museum erneuert, man sucht neue interaktive Arbeitsformen. Frau Olga Scholmowa führt interessante themenbezogene Forschungen, welche Touristen anziehen sollen.
Das Ziel meines Berichtes besteht darin, über die Hauptrichtungen der Kant-bezogenen Arbeit in der Region Kaliningrad zu reflektieren. Als eine Art Modell der Aktualisierung der Vergangenheit für die Gegenwart möchte ich das diesjährige Art-Projekt „Eine Teestunde mit Karamsin“ vorstellen, das von dem Kaliningrader Kulturfonds in Zusammenwirkung mit vielen Kultur- und Bildungseinrichtungen realisiert wird, gefördert vom PRÄSIDIALEN GRANT-FONDS.
Die Projektmaßnamen sind mit dem 230. Jahrestags des Besuches des großen russischen Historikers und Schriftstellers Nikolai Michailowitsch Karamsin in unserer Stadt verbunden, der im Juni 1789 in Königsberg angekommen war. Hier begann sein Reisejahr durch Europa, daraus resultierte sein Reisetagebuch „Briefe eines russischen Reisenden“, das ihm Ruhm und Ehre einbrachte und ihn zum kaiserlichen Historiographen, also Geschichtsschreiber machte, unter Aleksander I. hatte er sein großes Werk, die 12-bändische „Geschichte des russischen Staates“ verfaßt. Zu Beginn seiner Reise war Nikolai Karamsin gerade mal 22 Jahre alt, in Königsberg begegnete er dem 65-jährigen Professor Kant, der beim Gast folgenden Eindruck hinterlassen hatte, „…Ein kleiner hagerer Greis, von einer außerordentlichen Zartheit und Weiße…“ Das Gespräch der beiden dauerte etwa drei Stunden.
Das Hauptevent im Rahmen dieses Projektes findet am 12.Juni im Königstor statt, das Museum für Weltozean ist unser Hauptpartner. So wird im Königstor die Ausstellung „Eine Teestunde mit Karamsin“ eröffnet, und es gibt ein Festival namens „Das Tor zur Geschichte“. In der Ausstellung gibt es ein besonderes Art-Produkt, es ist ein Tee-Set für 12 Personen, bemalt im Stil der sogenannten informativen Porzellanmalerei, ein Genre, das im XVIII Jhdt. Sehr beliebt war, es sind Gravüren mit Motiven aus 4 wichtigsten Ländern, die Nikolai Karamsin besuchte, das sind Deutschland, Frankreich, Schweiz und England, sowie Miniatür-Portraits der wichtigsten Persönlichkeiten, welchen unser russischer Reisender den Besuch abstattete. Dieses Tee-Set wird im Rahmen des Projektes als Sonderauftrag im Kaiserlichen Porzellanwerk Sankt-Petersburg angefertigt.
Beim Lesen dieser Briefe von Karamsin wundert man sich darüber, wie gut die Intellektuellen im XVIII Jahrhundert einander kannten und wie eng sie miteinander verbunden waren. Möge der nächste Schritt der Vorbereitung auf das Jubiläum von Kant uns erlauben, ein ähnliches Zusammenwirken des gegenwärtigen progressiven europäischen humanitären Gedankengutes aufzubauen.
Unser Projekt sieht eine breite Aufklärungsarbeit in den Kaliningrader Bibliotheken und Schulen vor, im Laufe des ganzen Jahres 2019 werden Wettbewerbe, Vorlesungen und Tee-Klubs organisiert. Ich möchte Ihnen heute zwei Protagonisten einer historischen Inszenierung vorstellen, welche Ende Februar im Kaliningrader regionalen Dramatheater aufgeführt wurde und nun im Laufe des Jahres wiederholt wird, einmal im Ausstellungsraum und beim Festival im Juni.
© 2019 Nina Peretjaka, Dr. der Kulturologie, Vorsitzende des Kaliningrader regionalen Kulturfonds, öffentliche Organisation