Geschichte

Reise nach Königsberg im April 2010

Donnerstag, 15. April

Am 14. April bin ich morgens mit dem Flugzeug aus Newark/USA in Berlin-Tegel eingetroffen; am 16. April wollen wir nach Riga fliegen. Als wir heute nachhause kommen, gibt es jedoch  eine schwer zu glaubende Hiobsbotschaft. Nach all den Bemuehungen und den vielen Vorbereitungen bekommt Gerfried aus allen Richtungen Anrufe wegen des Vulkanausbruchs auf Island. Die Flughaefen sind geschlossen, und wir wissen erst morgen, ob wir unser Vorhaben aufgeben oder aufschieben muessen. Der letzte Vulkanausbruch dieser Art war 1821; musste der Vulkan nun gerade jetzt wieder spucken? Noch nie hat es in der europaeischen Luftfahrt ein solches Hindernis gegeben.

Freitag, l6. April

Wir sind mit Sack und Pack zum Flughafen gefahren, instaendig hoffend, doch noch heute nach Riga fliegen zu koennen; aber der Flughafen Tegel ist vorerst bis 20 Uhr geschlossen. Deshalb hat Gerfried alle Teilnehmer angerufen und vereinbart, es morgen um 14 Uhr wieder zu versuchen. 10 Teilnehmer sind aus Berlin, 9 aus dem uebrigen Bundesgebiet und der Schweiz. Gerfried hat fuer alle die Fluege umgebucht. Das Umbuchen ging eigentlich recht reibungslos, und nun fliegen wir nicht mit Baltic Air, sondern mit Carpatair, einer Fokker 70, 2 ½ Stunden. Einen Teil der Reisegruppe haben wir auf dem Flughafen schon kennengelernt. Zwei Herren aus Dresden waren bereits angereist, und da war auch Frau Dr. Neiss, die Manfred (mein geschiedener Mann) in Heydekrug kennengelernt hatte. Dr.v.Loewis of Menar wollte morgen in Riga seinen Vortrag halten; er ist Deutschbalte schottischer Abstammung und hat beruehmte Vorfahren in Riga. Daraus wird nun leider nichts werden. Auch auf das Orgelkonzert im Rigenser Dom, den Vortrag des Kulturattachés und die Stadt- fuehrung mit Herrn Dr.v. Boetticher  muessen wir verzichten. 

Wir sind nun wieder in Gerfrieds Wohnung, und er versucht, ueber das Internet – so zum Trost – Opernkarten zu bekommen. Wenn das nicht klappt, haben wir einen grossen Stadtbummel vor. Ueberall faengt es an, gruen zu werden, und die Rasen- flaechen in den Anlagen sind mit Osterglocken, Tulpen und Narzissen gesprenkelt. In Island bricht ein Vulkan aus und in Berlin der Fruehling. Der Mensch hat keinen Einfluss auf das Wirken der Natur. 

Nachmittags sind wir viel U- und S-Bahn gefahren und meilenweit gelaufen, zum Alex, an der Museumsinsel und dem Dom vorbei zur Staatsoper unter den Linden. Dort haben wir die beiden letzten, leider sehr teuren, Karten fuer “Tosca“ bekommen. Eigentlich wollten wir um diese Zeit in Riga zu Abend essen, aber es hat sich ja nun alles geaendert. Gerfried war staendig am Handy, und ich habe gestaunt, wie flexibel und geduldig er ist. Er ist der Initiator,  Organisator und Leiter dieser ganz speziellen Koenigsberg- reisen (freiwillig und aus eigenem Interesse) und freut  sich, dass die meisten Teilnehmer noch sehr stark motiviert sind, diese Reise durchzufuehren, auch wenn wir jetzt Riga mit allen geplanten Veranstaltungen streichen muessen.  Hoffentlich koennen alle, die schon in Berlin eingetroffen sind, morgen nach Riga fliegen und weiter nach Koenigsberg.

Dieser anstrengende Tag endet dann in der Staatsoper unter den Linden bei ‘Tosca’. Es war eine wohlgelungene und be- eindruckende Inszenierung, so gut, dass Gerfried nun schon zum zweiten Mal dort war. Hinterher haben wir noch irgendwo eine heisse Linsensuppe mit Wuerstchen gegessen und ueber unsere Reise, den Vulkan und Tosca gesprochen. Nun ist die Nacht schon zum grossen Teil vorbei, und bald werden wir wieder zum Flughafen fahren. 

Samstag, 17.April

Als erstes erfahren wir, dass wir auch heute nicht fliegen koennen. Also muss Gerfried wieder alle benachrichtigen.  Dr. v.Boetticher aus Hannover sitzt schon ganz frueh im Zug und ist eben hier eingetroffen. Ich bin allein, und so nehme ich ihn in Empfang und wir unterhalten uns bei Apfelsaft, bis Gerfried von seinen Besorgungen zurueckkommt. Dann beschliessen die beiden Herren, wieder zum Flughafen zu fahren, um erneut Umbuchungen vorzunehmen oder auf Bus und Faehre umzusteigen. Es ist zur Zeit wirklich nicht leicht, nach Koenigsberg zu kommen.Ich staune darueber, dass alle noch fest entschlossen sind, um jeden Preis ans Ziel zu kommen. Das schoene Riga mit dem interessanten Programm ist nun gestrichen. Hoffentlich bleibt uns das Koenigsberger Programm erhalten. 

Gerfried und Herr v.Boetticher kommen mit schlechten Nachrichten vom Flughafen zurueck: In den naechsten Tagen kann man nicht in die Luft gehen,jedenfalls nicht per Flugzeug. Als letzte Moeglichkeit ruft Gerfried einen russlanddeutschen Bekannten in Berlin an, der ihm schon im letzten Dezember die Fahrt mit einem Kleinbus nach Koenigsberg vermittelt hat. Dem gelingt es, zwei Kleinbusse fuer uns anzuheuern, die zur Zeit schon zwischen Kassel und Hamburg unterwegs sind. Dr.v.Loewis, fuer den Riga besonders wichtig war, kann nicht aus Koeln nach Berlin kommen und ist nun nicht mehr dabei. Lilo Oberli ist aus der Schweiz nach Frankfurt gefahren und muesste dort abgeholt werden; sie entschliesst sich dann aber, mit dem Zug nach Berlin zu fahren. Inzwischen sagt auch Dr. Plagemann aus Dresden ab. Er moechte die Fahrt um 365 Tage verschieben. 

Gerfried verhandelt mit den Kleinbusfahrern, dass sie uns etwa um Mitternacht in seiner Wohnung abholen kommen. Es kann aber auch spaeter werden. Bei all dem haben wir das Mittagessen vergessen. Wir brechen also auf, um in der Naehe Flammkuchen zu essen. Auf dem Nachhauseweg machen wir Halt bei Gabriele Kuestermann, die 2009 an der Koenigsberg-Fahrt teilnahm und uns netterweise zu Kaffee und Kuchen einlaedt. 

Abends beruhigt sich dann das Telefon, und Gerfried kann eine Pause einlegen. Dr. v. Boetticher spricht ueber Riga und zeigt Bilder vom Haus seiner Familie, mit grossem Wappen, das sich mitten in Riga befindet. Es ist gut, dass ein Historiker mit uns auf diese Reise geht. 

Nun bin ich sehr gespannt, wie dieses Abenteuer enden wird und ob die kleinen Busse wirklich ‘nur’ 14 Stunden bis Koenigsberg brauchen. Die Fahrer scheinen nie zu schlafen und sind staendig im Einsatz. Als erstes kommt gegen Mitternacht ein junger Fahrer namens Iwan an und nimmt sechs Teilnehmer mit. Wir fuehlen uns wie Kamikazeflieger. Iwan faehrt wie ein Henker und ueberholt laufend, wo man das nicht darf. Dr.v.Boetticher sagt einmal sehr laut “fahr doch langsam” auf deutsch. Das wirkt fuer ein paar Minuten; sonst spricht er mit Iwan nur russisch. Wir kommen aber dennoch heil in Rauschen an. Der Fahrer hat nur 2 ½ Stunden Pause, dann muss er wieder nach Deutschland zurueckfahren. Wir bringen unsere Koffer ins Zimmer und brechen gleich zu einer Stadtbesichtigung und zum Strand auf. Das tut sehr gut nach angstvollen 12 Stunden im Kleinbus. 

Rauschen (Swetlogorsk) und Cranz (Selenogradsk) waren vor dem Krieg elegante und beliebte Seebaeder. Rauschen ist nicht zerbombt worden, und so stehen hier noch Haeuser, die lange vor dem Krieg erbaut wurden, im ortstypischen Baustil mit viel Holz. Es sind hier aber auch sehr schoene neue Haeuser entstanden, mit herrlichen Schmiedeeisentoren und –zaeunen. An den Strassen stehen Tische mit Bernsteinschmuck. 

Als wir nach zwei Stunden ins Hotel zurueckkommen, ist der zweite Bus mit Gerfried, Baerbel und Lilo Oberli noch nicht eingetroffen. Er ist erst um vier Uhr morgens in Berlin abgefahren. Zwei Damen, die schon mit gepackten Koffern zu Gerfried gekommen waren, gaben um drei Uhr nachts auf und fuhren wieder nach Hause. Bei der Ankunft hoeren wir, dass auch der zweite Kleinbus einen so wilden Fahrer hatte. Von zwanzig Teilnehmern, die sich angemeldet hatten, sind schliesslich zwoelf eingetroffen. Wir ziehen mit den Neuankoemmlingen noch einmal zwei Stunden los, denn auch sie haben nach der langen Reise das Beduerfnis, sich die Beine zu vertreten. Das herrliche Wetter lockt uns. Spaeter stellen wir unsere Uhren eine Stunde vor und gehen zum Abendessen. Wir sind alle so froh, dass wir nicht aufgegeben haben und nun endlich hier in Ostpreussen sind. Prof. Hertel, der nicht Ostpreusse ist, sondern aus Dresden kommt, hat sich in die Stadt Koenigsberg und Ostpreussen verliebt. Er ist schon zum vierten Mal hier, und wir freuen uns immer, wenn er im Bus zum Mikrofon greift. Sein Wissen und seine Begeisterung scheinen unbegrenzt zu sein. Seine Freude “wieder im Lande zu sein”, ist ansteckend. Warum habe ich nur so lange gezoegert, meine Geburtsstadt zu besuchen? Wollte ich die Erinnerungen einer damals Vierjaehrigen schuetzen, oder wollte ich nicht wahrhaben, dass die Menschen, die heute hier leben,‘mein’ Koenigsberg als ihre Heimat ansehen? Ist nicht in Kaliningrad noch immer der Geist Koenigsbergs und Kants zu spueren?

Das Abendessen ist gut, die Gespraeche noch besser, und Gerda Sperber, die Weitgereiste, die so spannend von fernen Laendern erzaehlen kann, holt auch noch eine Flasche Wodka   aus ihrer Umhaengetasche. Danach ist die Stimmung so gut, dass wir beschliessen, oben an der Steilkueste, im ehemaligen Rauschener Tanzpalast, noch ein Bier zu trinken.

Montag, 19. April

Um 8:30 Uhr sitzen wir alle an einem sehr schoen gedeckten Fruehstueckstisch, und um 10 Uhr holt uns ein Bus zu einer Fahrt nach Koenigsberg ab. Herr Bartfeld, der Hotelbesitzer und Ostpreussenkenner, begleitet uns. Wir halten zuerst in Georgenswalde (Otradnoje) vor dem Haus des Bildhauers Hermann Brachert an, in dem sich heute ein kleines Museum befindet. Die Museumsdirektorin haelt eine Ansprache ueber das Leben und Wirken des Kuenstlers, die Gerfried fuer uns uebersetzt. Sie will gar nicht glauben, dass ich vor dem Krieg in Koenigsberg geboren wurde. Na ja …

Von Georgenswalde fahren wir nach Palmnicken (Jantarnyj) zu Moritz Becker. Er und die Menschen, die in der Bernstein- grube fuer ihn gearbeitet haben, haben Palmnicken erbaut.  Man ist dabei, sein schoenes, grosses Haus wieder herzustellen. Das neue Dach macht schon einen sehr guten Eindruck. Daneben steht ein schoener Fachwerkbau, vollkom- men renoviert. Das dritte Gebaeude ist das neuerbaute  Hotel mit dem Namen ‘Moritz Becker’. Das alles gehoert seinem Enkel, d.h. bis auf das Land, denn das kann man nur pachten. Gegenueber, auf der anderen Strassenseite, steht eine alte evangelische Kirche, die ihr Aeusseres behalten durfte, aber innen russisch-orthodox geworden ist. Von Palmnicken fahren wir weiter zu einer ersten Stadtrundfahrt durch Koenigsberg. Gerfried hat mich in den letzten Jahren mit Literatur ueberhaeuft, und so wusste ich, dass nur wenig vom alten Koenigsberg erhalten geblieben ist und dass recht heruntergekommene Plattenbauten und scheussliche Staatsgebaeude das Stadtbild beherrschen. Ich bin also vorbereitet, und doch ist da mehr, viel mehr, ich kann es nur noch nicht so richtig beschreiben. Es will mich festhalten. Ob ich wohl noch einmal hierherkommen und herausfinden kann, was ‘es’ ist?

In unserer Gruppe sind echte Koenigsbergbegeisterte, die diese Stadt und ihre Geschichte bis zurueck zu den Gruender- jahren genau kennen. Prof. Hertel uebernimmt manchmal das Mikrofon und erklaert und zeigt uns Koenigsberg wie einer, der sein ganzes Leben dort verbracht hat. Dr.v. Boetticher kann als Historiker vieles erklaeren und hat immer dankbare Zuhoerer. Herrn Bartfelds Beitraege werden von Gerfried fuer uns uebersetzt. 

Wir fahren zum Museum im‘Friedlaender Tor’, durch das frueher die Strassenbahnen gefahren sind, und sehen dort eine Ausstellung ‘Virtuelles Koenigsberg’, die ich mit der Videokamera aufgenommen habe, um sie zuhause noch einmal nachzuerleben. Schoenes, altes Koenigsberg. Was fuer eine lebendige Stadt das gewesen sein muss. Ich sehe ein paar Traenen und kann sie so gut verstehen. Auch die Juengeren unter uns fuehlen sich durch die Erzaehlungen ihrer Eltern mit dieser Stadt verbunden. 

Das spaete Mittagessen ist wieder sehr gut, und ich staune immer ueber die fantasievolle Praesentation der leckeren Dinge. Nach dem Essen fahren wir zu dem Elternhaus unserer Reisegefaehrtin Lilo Oberli, die Koenigsbergerin ist und jetzt in der Schweiz lebt. Sie war schon 14 Mal hier und mag es sehr, wie Gerfried diese Reisen organisiert. Auch wir anderen fuehlen uns wohl in dieser Gruppe. Schliesslich hat uns nichts, auch nicht ein Vulkanausbruch, davon abhalten koennen, nach Koenigsberg zu kommen!

Nach dem Abendessen im Hoffmann-Haus in Rauschen gehen wir wieder zum Strand, um den Sonnenuntergang zu sehen und anschliessend ein Bier zu trinken. Leider rutsche ich auf riesigen, nassen Steinen aus und falle auf den Kopf. Mal sehen, wie sich der morgen anfuehlt ….. vielleicht habe ich Glueck.

Dienstag, 20. April

Nach dem Fruehstueck fahren wir zuerst nach Koenigsberg, das 40 km von Rauschen entfernt liegt, zum Hauptbahnhof. Die beiden letzten Teilnehmer, Claudia Vollmer und Prof. Wolfgang Deppert aus Hamburg treffen heute ein. Sie haben unendlich lange im Bus gesessen und wurden dann noch lange an der Grenze aufgehalten. Nun steigen sie aus dem grossen Bus gleich in unseren um machen das volle Tagesprogramm mit. Es geht nach Gumbinnen (Gusew) durch die einstige Kornkammer Deutschlands. In den kleinen Orten am Wege hat fast jedes Haus ein grosses Storchennest. Die riesigen Felder liegen brach, und Herr Bartfeld erklaert, dass die Kolchosen aufgeloest worden seien und die Kleinbauern mit ihren Ertraegen nicht mit den Produkten aus den EU-Laendern konkurrieren koennten. Deshalb bearbeiten sie die Felder nicht mehr. Im Osten, Gumbinnen, ist die Erde fruchtbarer. Man betreibt Viehzucht und Milchwirtschaft und baut Raps an. Wir sehen in der Ferne einen Turm von Insterburg. Dort werden wir auf der Rueckfahrt halten. In Gumbinnen (Gusew) kommen wir spaeter an als geplant und essen deshalb als erstes im Gemeindesaal der Salzburger Kirche zu Mittag. Der Leiter des Diakoniezentrums, ein Russlanddeutscher namens Alexander Michel, erzaehlt von der Gemeindearbeit und zeigt uns anschliessend die Salzburger Kirche. Sie wurde nach 1945 als Lagerhalle benutzt und verfiel. Nach 1991 wurde sie aus deutschen Mitteln wieder aufgebaut. Mit der Deutschlehrerin Frau Vera Kurnossowa gehen wir dann zu der frueheren Friedrich-Schule, die nach Friedrich dem Grossen benannt ist und im Krieg nicht zerstoert wurde. In der Aula befindet sich ein 1912 entstandenes Fresko, das erst vor wenigen Jahren unter dem Putz freigelegt und  restauriert wurde. Es nimmt die ganze Querwand der Aula ein und zeigt Koenig Friedrich Wilhelm I., wie er 1732 die wegen ihres Glaubens aus Salzburg vertriebenen Protestanten in Gumbinnen mit den Worten begruesst, die in grossen Lettern unter dem Fresko stehen:“MIR NEUE SOEHNE – EUCH EIN MILDES VATERLAND.“ Danach machen wir noch eine Stadtrundfahrt und halten bei dem beruehmten Gumbinner Elch an, 1911 von Ludwig Vordermayer geschaffen und in Berlin-Friedenau gegossen, auf den die Bewohner des heutigen Gusev ebenso stolz sind wie frueher die Einwohner von Gumbinnen.  

Wie in Gumbinnen, gibt es auch in Insterburg noch viele aus deutscher Zeit stammende Haeuser. Insterburg war einst ein Schienenknotenpunkt. Sehenswert sind die reformierte Kirche, heute russisch-orthodox, und das Denkmal des Aennchen von Tharau. Das Schloss Insterburg, die alte Ordensburg, ist eine grosse Ruine. In einem noch teilweise erhaltenen Seitengebäude hat sich eine Gruppe einquartiert und dort eine Art Museum eingerichtet, das mehr an eine Rumpelkammer erinnert. Wir halten kurz an dem erst vor wenigen Jahren errichteten grossen Denkmal des russischen Generals Barclay de Tolly an, auch er ein Deutschbalte schottischer Abstammung, der das kaiserlich-russische Heer gegen Napoleon befehligte. Wenige Kilometer ausserhalb von Insterburg besichtigen wir das Gegenstueck dazu, das von Friedrich Wilhelm III. 1830 für Barclay de Tolly errichtete gusseiserne Denkmal mit Inschriften auf deutsch und russisch. In einem benachbarten Gutshaus ist der General am 28. Mai 1818 gestorben.  

Abends sitzen wir noch lange zusammen. Prof. Deppert zeigt ueberhaupt keine Muedigkeit, im Gegenteil, sein Lachen ist absolut ansteckend, und er verfuehrt uns sogar zum Singen. Dabei trinken wir ein Glaeschen Wein (von Gerda) und freuen uns ueber Kaese aus der Schweiz (von Lilo).

Mittwoch, 21. April

Wir fahren nach dem Fruehstueck nach Cranz (Selenogradsk) Ich war sehr neugierig darauf. Aber es wurde eine Ent- taeuschung. Das Haus meiner Grosseltern steht noch, ist aber nicht wiederzuerkennen. Es ist in sehr schlechtem Zustand. Es wohnen mindestens zwei Familien darin. Da wir so wenig Zeit haben, verzichten wir darauf, mit den Hausbewohnern in Kontakt zu treten. Das alte deutsche Kopfsteinpflaster hat viele Loecher. Deshalb kann ich vom Bus aus nicht filmen. Promenade und Strand, wo ich als Kind gespielt habe, sehen traurig aus, und der Strand ist noch nicht einmal zur Haelfte mehr vorhanden. Man hat die Buhnen verkommen lassen, und so kann die See ungehindert ihre zer- stoererischen Kraefte walten lassen. Cranz war frueher ein beliebtes, elegantes Seebad. 

Wir fahren nach Koenigsberg und machen im Gymnasium-Internat fuer begabte Schueler einen Besuch. Was fuer ein Erlebnis! Der Direktor der Schule haelt einen Vortrag ueber die Schueler und ihre Studienfaecher und Moeglichkeiten  und erklaert auch, auf welche Weise sie in die Schule eintreten koennen. Das alles wird von dem Deutschlehrer Leo Gurwitsch uebersetzt. Die deutsche Sprache wird hier sehr konsequent studiert. Man bietet uns einen Mittagsimbiss an; einige Schueler kommen dazu, und wir unterhalten uns gut. Diese Schule ist einmalig im russischen Sprachraum und findet Beachtung und Interesse im europaeischen Ausland. 

Von der Schule aus fahren wir zu der neuen ev.-luth. Kirche, wo wir im Gemeindesaal noch einmal zu Mittag essen muessen, was nicht weiter erwaehnenswert ist. 

Auf dem Programm steht nun das Deutsch-Russische Haus und ein Treffen mit russischen Kantfreunden, Heimatforschern und Angehoerigen der Kant-Universitaet. Der Direktor des Deutsch- Russischen Hauses, Andrej Portnjagin, begruesst uns mit  einer kurzen Ansprache. Es folgt der deutsche Generalkonsul Dr. Aristide Fenster mit einer eloquenten, laengeren Ansprache ueber das deutsch-russische Freundschaftsverhaeltnis und die politische und oekonomische Situation des Kaliningrader Gebiets. Dann begruesst Gerfried, der Organisator des deutsch-russischen Treffens der Freunde Kants, die zahlreich erschienenen Anwesenden. Von der Kant-Universitaet sind einige Historiker und Philosophie-Professoren dabei. Nach Gerfried spricht Prof. Wladimir  Gilmanow zum Thema ‘Was soll ich tun? Kant im Diskurs der Hoffnungsphilosophien’. Es folgt Prof. Günter Hertel, der ueber die Kirche in Rauterskirch (Alt Lappienen, heute Bolschije Bereschki) spricht. Er zeigt einen Film von Dieter Kopelke und Bilder und erklaert uns die Geschichte dieser einmaligen Kirche. Er ist im Laufe der Jahre ein gluehender Ostpreussen-Liebhaber geworden und hat sicherlich so manchen angesteckt und inspiriert. Der Vortrag von Dr. Plagemann „Die Region Koenigsberg als preussisches Hongkong?“ wird in russischer Uebersetzung von Herrn Bartfeld verlesen und mit Kommentaren versehen; die deutschen  Teilnehmer lesen den Text auf Fotokopien mit. 

Nun steht Musik auf dem Programm: Drei Damen, die auf dem Fluegel ihr beachtliches Koennen zeigen, eine Saengerin, jung, schoen, mit guter Stimme, noch ganz junge Musiker, die den 1. Preis eines gesamt-russischen Wettbewerbs gewonnen haben, zwei Balalaika-Spieler und zwei Jungen mit dem Akkordeon. Sehr schoen anzusehen war auch die Volkstanzgruppe in bunten Trachten. Es war wirklich eine Freude. Nach dem Kunstgenuss gingen wir dann zu kulinarischen Genuessen am Abendbuefett ueber.

Das war wieder ein langer, ereignisreicher Tag und wir fahren ziemlich muede nach Rauschen zurueck. Wir haben  uns dann doch noch zusammengesetzt, und irgendwie er- scheinen ein paar Flaschen Bier der Marken “Koenigsberg” und “Ostmark”auf dem Tisch. Wieder gibt es interessante Gespraeche und Diskussionen, denen ich aber wegen geistiger Ueberlastung waehrend des Tages und rapide zunehmender Muedigkeit nicht mehr so recht folgen kann.So gehe ich bald ins Bett, und Baerbel folgt ein paar Minuten spaeter. 

Donnerstag, 22. April – Kants Geburtstag

Nach dem Fruehstueck fahren wir nach Koenigsberg und suchen zunaechst den Gedenkfriedhof fuer die Koenigsberger Kriegsopfer in der Cranzer Allee auf. Gerfried hat Blumen bestellt, die wir an das schlichte Mahnmal legen. Danach stimmen wir ganz leise das Lied ‘Dona nobis pacem’an.  Wenn man in Koenigsberg auf diesen schlechten Gehwegen und Strassen geht, muss man daran denken, dass so viele Tote hier einfach verscharrt und einzementiert wurden. 

Wir fahren danach zu dem Kant-Denkmal am Paradeplatz und besichtigen das Gebaeude der Kant-Universitaet.Von dort gehen wir zu Fuss den frueheren Steindamm, jetzt Leninskij Prospekt hinunter zu dem Einkaufszentrum  „Kaliningrad Plaza“, wo wir wieder in dem Restaurant „Schaschda” zu Mittag essen wollen.

Als wir mit einer Menge von Menschen die Strasse ueberqueren, bleibt Baerbel ploetzlich mit dem Fuss in einem Schlagloch an einer Strassenbahnschiene haengen und stuerzt. Einige heben sie auf; sie klagt gleich ueber starke Schmerzen. Gerfrieds „Mann in Koenigsberg“, der sehr nette und hilfsbereite Boris Worobjow, faehrt mit ihr zur Notaufnahme. Schon nach einer Stunde bringt er sie zurueck. Sie traegt den rechten Arm in einer Schlinge. Der Schultergelenkknochen ist gebrochen; sie wollte aber keinen Gips. Tapfer faehrt sie mit in den Dom zu Kants Geburtstagsfeier; danach bringt Boris W. sie zurueck ins Hotel. Wir alle sind bestuerzt ueber diesen Unfall, aber Baerbel troestet uns mit ihrem unversieglichen Optimismus.

Im Dom begruesst uns der Dombaumeister Igor Oginzow und macht mit uns einen kurzen Rundgang. Zu Beginn der Feier spricht der russische Philosophieprofessor Wladimir Brjuschinkin; Gerfried uebersetzt. Dann spricht Prof. Wolfgang Deppert und betont, dass Kant nicht nur ein „Alleszermalmer“ war, wie Mendelssohn ihn nannte, sondern auch ein Versoehner. Danach erheben sich alle, und der Domchor singt die studentische Hymne „Gaudeamus igitur“.Es folgt ein Orgelkonzert mit Werken von J. S. Bach, gespielt von dem jungen Domorganisten Artjom Chatschaturow, dem Trompeter  Alexej Schuk und dem Domchor. Draussen am Grabmal Immanuel Kants haelt Prof. Leonard Kalinnikow eine kurze Ansprache; dann legen wir alle dort Blumen nieder. Danach gehen wir noch einmal in den Dom, wo uns Artjom die grosse neue Domorgel erklaert.  

Im Deutsch-Russischen Haus hoeren wir dann den Vortrag von Prof. Deppert: ‘Immanuel Kant, der verkannte Empirist, oder Wie Kant zeigt, Grundlagen der heutigen Physik aufzufinden’. Es ist ein anregender, mitreissender Vortrag, von dem ich meine, einiges verstanden zu haben, es aber hinterher in der Diskussion nicht mehr in Worte fassen kann. So werde ich den Text noch einmal lesen und stumm und ganz fuer mich ueber einige Begriffe darin nachdenken.

Wir gehen dann alle nach nebenan in einen grossen, festlich gedeckten Speisesaal und hoeren der Rede des „Bohnenkoenigs“ zu, die diesmal der Maler Jurij Smirnjagin haelt. (Selbstdarstellung von beachtlicher Laenge, erweitert und vertieft von seiner Frau). Wir geniessen danach ein grosszuegiges ‘Bohnenmahl’, bei dem es viel Gutes, aber keine Bohnen gibt. Die silberne Bohne befindet sich im Nachtisch, und wer sie findet, muss im naechsten Jahr die Bohnenrede halten. Diesmal wird sie von Frau Prof. Viktoria Gawrilowa gefunden, die sich leider, wie sie in der Diskussion nach dem Vortrag von Prof. Hertel sagte, mehr fuer die Erhaltung der Storchennester als der Kirchenruine in Rauterskirch interessiert. 

Freitag, 23. April

Wie immer, ein gutes Fruehstueck und dann eine Fahrt in die Elchniederung nach Alt Lappienen/Rauterskirch. Prof. Hertel hat uns ja schon mit seinem Vortrag und Bildern auf diese einmalige Kirchenruine, dieses ganz spezielle Kleinod, vorbereitet. Der 23. April ist ein sonniger, aber windiger Vorfruehlingstag. Nach einem kurzen Spaziergang stehen wir vor der Ruine dieser einzigartigen Kirche. Hoch oben haben sich Stoerche auf fast allen acht Ecken der Ruine ihre Nester gebaut. Auch in den Baeumen ringsum wohnen sie.Ihnen scheint diese stille, einsame Gegend zu gehoeren. Sie bringen Leben hierher, und ich habe zum erstenmal Stoerche klappern hoeren. Ein eigenartiges Geraeusch, mir scheint, das einzige hier. 

Auf einer Tafel am Eingang steht: 

Kirche von Rauterskirch/Alt Lappienen

Entworfen von Philipp von Chieze (1626-1673)
(Generalbaumeister des Grossen Kurfuersten)
in der Form eines Oktagons.

Erbaut von seiner Frau Luise Katharina
geb. von Rauter (1650-1703)

Fertiggestellt im Jahre 1675

Erneuert und durch zwei Anbauten erweitert
im Jahre 1700
Barocke Innenausstattung
mit Kanzelaltar

Barocke Orgel der Koenigsberger
Orgelwerkstatt Mosengel
im Jahre 1701

Grablege der Familie Keyserlingk,
Herren auf Rauterburg
Durch Blitzschlag zerstoert
und ausgebrannt, seitdem Ruine

Ich halte mich lange im Innern der Ruine auf und gehe dann mehrmals um sie herum. Sie laesst mich gar nicht los. Wenn man sie doch in Watte packen und vor weiterem Verfall schuetzen koennte! Die v. Chiezes haben mit der sicherlich ungewoehnlichen oktogonalen Symmetrie ein Gotteshaus von  aesthetischer, liebenswerter Harmonie geschaffen. Ich danke Prof. Hertel fuer seinen Beitrag und seine Fuehrung, die ein Hoehepunkt unserer Reise waren. Wir werfen noch einen Blick auf die Gilge, die breit und ruhig durch die Elchniederung fliesst.

Danach gibt es in dem kleinen Ort Rauterskirch eine Ueberraschung. Prof. Hertel hat in den Raeumen der Gemeinde- schwester einen Imbiss vorbereiten lassen, und so sitzen wir nach dem Besuch der Ruine dort gemuetlich zusammen. Das ist eine sehr ruehrende Angelegenheit. 

Ich denke heute immer an Baerbel, die nach ihrem Unfall auf Koenigsbergs Strassenbahnschienen im Hotel bleiben muss und wahrscheinlich Schmerzen leidet.

Samstag, 24. April

Abschied

Fuenf aus unserer Gruppe fahren mit dem grossen Bus zurueck.

Unter ihnen auch Baerbel, weil sie da mehr Platz fuer ihre Schulter mit dem dicken Verband hat. Frau Regina Wangemann faehrt mit eigenem Wagen zurueck, Lilo, die immer gut aufgelegte Koenigsbergerin, bleibt noch eine Woche laenger. Wir sechs Uebriggebliebenen verbringen den letzten Tag ganz locker und ohne festes Programm. Gerfried und ich sind bei  Familie Kalinnikow eingeladen. Klaus und Ute v. Keussler wollen eine ausgedehnte Strandwanderung in Rauschen machen, und Lilo und Gerda bummeln durch Koenigsberg. Abends gehen wir in den Dom, wo ein Konzert zum Gedenken an die Opfer des Voelkermords an den Armeniern 1915 in der Tuerkei stattfindet, das sehr ergreifend und sehr schoen ist. Zum Konzert und dem anschliessenden Abendessen kommen Ute und Eckhard Baesmann aus Allenburg bei Friedland, die wir eigentlich laut Programm besuchen wollten. Es war aber zeitlich nicht mehr moeglich. Nett, dass wir sie nun doch noch kennenlernen koennen. Zum Essen hat Gerfried auch Artjom und die armenische Saengerin eingeladen. Boris Bartfeld und Tochter Alexandra gesellen sich auch zu uns. Es war ein schoener Abschluss unserer Reise.

Sonntag, 25. April

Ein letztes Fruehstueck im Hoffmann-Haus, und dann fahren wir nach Koenigsberg, wo wir um 12 Uhr in einen kleinen Bus nach Berlin einstiegen. Diesmal haben wir einen ruhigen Fahrer und eine angenehme Reise, mit allerdings 2,5 Stunden  Wartezeit an der russisch-polnischen Grenze. Um Mitternacht kommen wir in Berlin an. Genau acht Tage vorher, am 17. April, fuhren wir um Mitternacht von hier ab. Der Vulkanausbruch hat uns vier Tage und den Besuch von Riga gekostet. Aber trotz aller anfaenglichen Widrigkeiten war diese dritte Koenigsberg-Reise der Freunde Kants ein voller Erfolg. Ich bedauere, dass ich bei den ersten beiden Reisen nicht dabeiwar, und hoffe, moeglichst viele aus dieser Gruppe im naechsten Jahr wiedersehen zu koennen. 

Gisela Post        

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