Geschichte

Prof. Dr. Monique Castillo: Kant und die kulturelle Einheit Europas

Berlin, 15. Juni 2011

Dank dem guten Empfang von Frau Marianne Motherby kann die Gesellschaft «Freunde Kants» der kantischen Geselligkeit eine Verlängerung geben, die von den Gästen und Freunden des Philosophen geschätzt wurde. Man weiß, dass, wenn Kant ziemlich reich war, um ein Haus ihm zu eigen zu haben (in 1784 nach dreißig Jahren Unterricht), er sich angewöhnte, seine einmalige um ein Uhr gediente, tägliche Mahlzeit, mit einigen Gästen zu teilen (deren Zahl fünf nicht überschreiten durfte, um den flüssigen Umlauf des Gesprächs zu gewährleisten). Eklektiker hatte er für Gäste je nach Fall einen Arzt, ein Mitglied des Kriegsrates, ein Pfarrer, einen Mathematiker, einen englischen Händler, einen Bankier, ein Student. Worüber sprach man? Nicht von Philosophie, aber von Meteorologie und von besonders physischer Wissenschaft… und von Politik: von „ereignissen des Tages, von den Siegen, von den Friedensverträgen“ nach einem Zeugen, das natürlich ganz besonders nach dem Ausbruch der französischen Revolution, deren Nachricht es im höchsten Maße anregte. Das bestätigt das Interesse, das der Philosoph an den Angelegenheiten der Welt und an der europäischen Aktualität nahm im besonderen. Das ist nicht ohne Gemütsregung, dass wir diese kantische Geselligkeit heute verlängern.

Die Idee von Europa

Kant ist der Schöpfer einer gewissen Idee Europas, eines cosmopolitischen Europas, das heißt sowohl vereint als auch mehrfach: vereint gegen den Krieg, aber verschieden, um eine weltweite Regierung, zu vermeiden: «einer Verfassung, darin alle Freiheit, und mit ihr … Tugend, Geschmack und Wissenschaft erlöschen müsste» (Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft, Felix Meiner Verlag, Seite 35, Fussnote). Nun aber kann man die kantische Idee von Europa seiner Philosophie nicht losbinden, denn es ist das kantische Genie, das der Idee eines gemeinsamen Schicksals Europas eine antropologische, rechtliche, politische und moralische Legitimität verschafft.

Die Philosophie von Kant

Das kantische Werk ist ein entscheidender Moment der Geschichte des europäischen und westlichen Gedanken, ein Moment, der „revolutionär“ analogisch mit der „kopernikanischen Revolution“ der Physik gesagt werden kann, die Kant als Illustration seiner eigenen Philosophie nimmt. Ebenso wie Kopernikus die Bewegung der Planeten, indem er sie von dem Standpunkt der Sonne aus anschaut, ebenso das Kriticismus begreift die Gesetze der Welt, materiell und menschlich, indem man sie von dem Standpunkt des Menschen und nicht mehr Gottes aus anschaut.

Die kantische philosophie der Moral und der Handlung verleiht dem Humanismus eine ethische Grundlage im Zeitalter der modernen Wissenschaft. Der Humanismus ist, keine Sache guter Gefühle (was man zu oft glaubt), sondern eine Moral der gemeinschaftlichen Handlung. Da die Wissenschaft sich nicht beschäftigt, die Frage zu beantworten: „was soll ich thun? “ und da die Antworten auf diese Frage nicht mehr aus der Theologie stammen, hat die Menschheit kaum eine andere Wahl, als in sich selbst das allerletzte Ziel aufzudecken, das sie erreichen wollen soll, um sich nicht selbstzuzerstören oder in der Barbarei unterzugehen. Die kantische Philosophie Europas ist die politische und kulturelle Fassung dieser Philosophie der gemeinsamen menschlichen Handlung: „ich lerne die Männer ehren; und ich würde mich sehr viel unnötiger befinden, wie das gemeinsame von den Arbeitern, wenn ich nur dieses Studienthema glaubte zu allen anderen einen Wert geben kann, der in dies besteht: die Rechte der Menschheit erkennen zu lassen“

Seine Anwendung auf Europa

Kant hatte Glauben in der weltweiten Mission Europas, ohne sie je einer Wille zur Weltherrschaft zu identifizieren. Europa wird in „kosmopolitischer Absicht“ gedacht. Aber es ist zuerst in der kantischen Philosophie, dass diese Absicht seine volle Rechtfertigung findet: die kritische Philosophie nennt sich selbst „kosmisch“ oder „kosmopolitisch“, aufgrund der Tatsache, dass sie zu Maßstab die ganze menschliche Art angesichts ihrer vergangenen Geschichte und im Aufsicht ihrer künftigen Geschichte annimmt. Hierbei ist die kantische Perspektive nicht „europeo-europäisch“, sondern gleich westlich und sogar Weltweit. Beudeutend ist der Beitrag Europas zum Schicksal der ganzen menschlichen Art.

Dieses Europa aber noch nicht vor Augen steht. Die Originalität des kantischen Gangs besteht darin, davon die künftige Rechtliche Wirklichkeit gemäß der Rolle zu begreifen, die sie wird bei der Welt spielen sollen, wenn er auch weiss, dass das allerletzte Ziel (der universelle Frieden), noch nicht verwirklichbar ist.

Es würde sich allerdings nur um die fantastische Konstruktion eines Träumers handeln, wenn es keine Prämiße eines Weckens Europas an seiner Bestimmung gäbe und vor allem die Prämiße der Notwendigkeit, auf den Weg eines Völkerbundes zu geraten. Die kantische Stellung kann dann präziser definiert werden: Europa ist eine Idee, aber es ist ab dieser Idee, dass genau seine Wirklichkeit sich ausarbeitet. Seine Wirklichkeit wird kosmopolitisch sein, weil Europa das Foyer ist, wovon allein eine kosmopolitische Konzeption der Beziehungen zwischen den Völkern strahlen kann.

In den Augen von Kant wird es Europa nicht geben, solange sie nur ein Projekt für „Politiker“ sein wird (heute würde man sagen: ein ausschließlich wirtschaftliches Projekt). Es ist in den Mentalitäten, dass Kant eine Umwandlung wahrnimmt, von der er sich den Ausleger macht. Deswegen wendet er sich zuerst an das aufgeklärte Publikum (Wissenschaftler, Publizisten, Philosophen, aber auch Händler, Ärzte…) ohne je zu wollen, um jeden politischen Fanatismus zu vermeiden, dass die Philosophie Macht ergreift.

Kant und die Europäer

Aber Europa ist nicht aus einem Stück: sie wird aus Völkern, die sich unterscheiden durch das politische Regime und die nationalen Charaktere gebildet. Kant beschreibt die europäische Mehrheit mit den Vorurteilen, dass wir heute noch eine gegenüber den anderen haben, was nicht versäumt, manchmal lächeln zu lassen.

Zum Beispiel, ein erster Unterschied:

“1.Von Volkern, die in sich selbst Gesetzgebendes vermögen enthalten: Franzosen und Engländer, Italiener und Deutsche…

2. Von solchen, die gut den Gesetzen gehorchen, welcher Andere geben: Russen und Spanier; die ihnen nicht gehorchen: Polen und Türken” (Reflexion zur Anthropologie 1369)

Die europäischen Nationen werden auch nach ihrem mehr oder weniger großen Aufgeschlossenheit unterschieden, was ihren mehr oder weniger europäischen Charakter bedeutet.

Der Franzose ist geschprächig

Der Franzose ist höflich, und obwohl sein Geschmack für die Höflichkeit „in erster Linie den Handel mit den Frauen der großen Welt betrifft“, dehnt er sich auf eine Art “allgemeine Menschenliebe” aus. Aber der Franzose sich ebenfalls kenntlich macht an: „ein Leichtsinn, gewisse Formen nicht lange bestehen zu lassen, und ein ansteckender Freiheitsgeist, der (…) in Beziehung des Volks auf den Staat einen alles erschütternden Enthusiasm bewirkt, der noch über das Äußerste hinausgeht”.

Der Engländer ist zuerst englisch

“Für seine Landesgenossen errichtet der Engländer große und allen anderen Völkern unerhörte wohlthätige Stiftungen. – Der Fremde aber, der durchs Schicksal auf jenes seinen Boden verschlagen und in große Noth gerathen ist, kann immer auf dem Misthaufen umkommen, weil er kein Engländer, d.i. kein Mensch, ist.

Aber auch in seinem eigenen Vaterlande isolirt sich der Engländer… und in der Fremde, z.B. in Frankreich, dahin Engländer nur reisen, um alle Wege und Wirthshäuser (wie D. Sharp) für abscheulich auszuschrein, sammeln sie sich in diesen, um blos unter sich Gesellschaft zu halten”.

Der Spanier ist stolz

“Die spanische Grandezza und die selbst in ihrer Conversationssprache befindliche Grandiloquenz zeigen auf einen edlen Nationalstolz” Aber “er lernt nicht von Fremden, reiset nicht, um andere Völker kennen zu lernen.. schwierig gegen alle Reform, ist er stolz darauf, nicht arbeiten zu dürfen, von romantischer Stimmung des Geistes, wie das Stiergefecht, grausam, wie das ehemalige Auto da Fé beweiset, und zeigt in seinem Geschmack zum Theil außer-europäische Abstammung”.

Der Italiener ist überschwänglich

Der Italiener ist im Kunstgeschmack vorzüglich … “um zu sehen und in großer Gesellschaft gesehen zu warden…. Dabei aber (um doch den Eigennutz nicht zu vergessen): Erfindung der Wechsel, der Banken und der Lotterie. Das ist seine gute Seite: so wie die Freiheit, welche die Gondolieri und Lazzaroni sich gegen Vornehme nehmen dürfen…. Die schlimme aber: das Messerziehen, die Banditen, die Zuflucht der Meuchelmörder in geheiligten Freistätten, das vernachlässigte Amt der Sbirren”.

Der Deutsche ist kosmopolitisch

Er ist “der Mann von allen Ländern und Klimaten, wandert leicht aus und ist an sein Vaterland nicht leidenschaftlich gefesselt… Er lernt mehr als jedes andere Volk fremde Sprachen…<Er> disciplinirt seine Kinder zur Sittsamkeit mit Strenge, wie er dann auch seinem Hange zur Ordnung und Regel gemäß sich eher despotisiren, als sich auf Neuerungen (zumal eigenmächtige Reformen in der Regierung) einlassen wird. Das ist seine gute Seite…. Vornehmlich aber eine gewisse Methodensucht, sich mit den übrigen Staatsbürgern nicht etwa nach einem Princip der Annäherung zur Gleichheit, sondern nach Stufen des Vorzugs und einer Rangordnung peinlich classificiren zu lassen und in diesem Schema des Ranges, in Erfindung der Titel (vom Edlen und Hochedlen, Wohl- und Hochwohl-, auch Hochgeboren) unerschöpflich und so aus bloßer Pedanterei… zu sein

Ein europäischer kultureller Patriotismus?

Ungeachtet dieser Unterschiede h aben die europäischen Völkern einen gemeinschaftlichen kulturellen Schatz: das eigentümliche an unserem Kontinent im Zeitalter der Aufklärung besteht darin, zu der Idee zu gelangen, dass die Zivilisation nichts anderes ist als der universelle Fortschritt der Sitten und folglich die Arbeit einer unendlichen Verbesserung, die andere Völker weiterführen müssen, damit die ganze Menschheit einst der allerletzte Nachlassempfänger sei: „Wie müssen im occident den kontinuirlichen Fortschritt des menschlichen Geschlechts zur Vollkommenheit und von da die Verbreitung auf der Erde suchen” (Reflexion zur Anthropologie1501).

Dies ist das Paradox der humanistischen Gründung der Zivilisation in Europa: sie geht aus keiner “ Identitätskonzeption der Kultur vor, denn es würde sich dann darum handeln, diese Kultur zu bewahren und sie gleichartigerweise zu reproduzieren, anstatt dass diese Auffassung der Zivilisation, wie eine ununterbrochene Entwicklung ihr nur eine auf die Welt und die Zukunft gerichtete, kosmopolitische kulturelle Bestimmung gibt. Die Zivilisation, die keine vollendete Gesamtheit, aber ein kontinuierlicher Reformationsvorgang ist, besteht nur als eine Bewegung oder „unaufhörliches Fortschreiten” (Recension von Herder). Zweifellos werden die Europäer nicht dieser universalisten Berufung immer treu sein (und es kommt an, dass Kant bestimmten Imperialismusformen tadelt). Wenigstens ist sie die europäische Kulturidee, die das Kantismus hinterlässt.

Wenn die Mehrheit der Europäer zur europäischen Einheit gehört, ist es, weil die kantische Vorstellung Europas nicht supra-nationalistisch, sondern internationalistisch ist. Kant scharf unterscheidet zwischen dem Nationalismus im ethnischen Sinn und dem Patriotismus im politischen Sinn, und er fördert eine Art mit dem europäischen kosmopolitismus vollkommen zusammenbestehenden Patriotismus. Deshalb bezieht er den Patriotismus auf das Wort patria und nicht auf pater, “den die väterliche Regirung (nach dem Prinzip der Glüscseligkeit) … ist die ärgste” (Reflexion zur Rechsphilosophie 7979).

Was Kant nennt „Patriotismus“, nähert sich dem, was man heute Verantwortung gegenüber den kommenden Generationen nennt, und er sogar vom „weltweiten Patriotismus“ spricht (Ibid., 8019). Folglich, wenn eine europaïsche Bürgerschaft aufkommen kann, wird sie zweifellos die Form eines kosmopolitischen Patriotismus annehmen. Könnte man nicht von einen europäischen kulturellen Patriotismus sagen? „Ein Regime, das sein politisches Recht mit dem cosmopolitique Recht in Einklang bringt, ist in jeder Verfassung möglich. Als Bürger einer Nation als auch als Vollmitglied der Gesellschaft der Bürger der Welt sich sowohl sind zu denken die erhabenste Idee, wie der Mensch von seiner Bestimmung planen kann, und dass man nicht ohne Begeisterung denken kann“. 

Schlussfolgerung 1

Trotz dem Alter klarstellt Kant in 1798 in “Der Streit der Fakultäten” eine letzte Art, Europa zu denken: er zeigt, dass es eine europäisches Publikum gibt, die durch die gleiche nicht revolutionären Beistimmung zu den Grundsätzen der politischen Freiheit verbunden ist. Daraus ersieht Kant das Zeichen der unwiderruflichen Richtung der europäischen Geschichte im Weg von dem, was man heute nennen würde „eine Kultur des Fortschritts“.

Heute wendet ein Professor der Universität von Tunis diese kantische Deutung auf die demokratische Hoffnung an, die im Maghreb entstanden ist. Ist es eine andere Art, die kantische Hoffnung auf eine Verbreitung der Freiheit durch das Recht in einem Zeitalter zu verwirklichen, wo alle Völker, wie Kant es angekündigt hatte, politisch zusammenhängend geworden sind? Diese Hypothese würde bestätigen, dass die kantische Vorstellung Europas von der Geschichte der Welt nicht trennbar ist, und dass Kant für die kommenden, entfernten Generationen schrieb, die, das Werk zu verwirklichen hätten, das durch das Zeitalter der Aufklärung in die Wege geleitet wurde.

Schlussfolgerung 2

In einem Zeitalter, wo die Jugend manchmal für gut hält, die Toleranz mit einem radikalen kulturellen Relativismus gleich zu setzen, ohne die Verwandtschaft zu bemerken, die zwischen dem kulturellen Relativismus und dem politischen Nihilismus besteht, wie Thomas Mann, zum Beispiel, es recht im Jahre 1936 in “Achtung Europa” betont hatte; die kantische Position einverleibt sowohl die Möglichkeit zu widerstehen als auch zu hoffen. Die europäische Kultur ist keine Erbe, dessen einige Länder die Eigentümer wären und sich die Konservatoren machen müssten, sie hat diese Eigenheit, eine Aufgabe zu sein und zu bleiben, bis ins Endlose die Werte erfüllen, die ihr zugrunde liegen, wie es der Philosoph Edmund Husserl vor seinem Tod in einer Konferenz im 1935 erinnerte:

“Ideen aber, Ideale jeder Art, verstanden in dem Geiste der in der Philosophie erst einmalig Sinne gewonnen hat, tragen alle die Unendlichkeit in sich. Für uns gibt es ausserhalb der philosophisch-wissenschaftlichen Sphäre noch vielerlei Ideale und Endlichkeiten, aber sie haben den Charakter Unendlichkeit, unendlicher Aufgaben erst der Umbildung des Menschentums” mehr als eine Kultur ist diese Aufgabe, die nie beenden wird, die innere Kraft einer echten europäischen Geistigkeit.

© 2011 Monique Castillo

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