Hannah Arendt lebte seit dem Alter von drei Jahren mit ihrer Familie in Königsberg, ist dort aufgewachsen, zur Schule gegangen und hat 1924 Abitur gemacht.
Die Familie Arendt wohnte auf den Hufen, Tiergartenstr. 6 (heute ул. Зоологическая). Hannahs Großvater Max Arendt wohnte gleich nebenan in der Goltzallee (heute ул. Гостиная). Im Jahre 1920 heiratete Hannahs Mutter ihren zweiten Mann Martin Beerwald und zog mit ihrer Tochter in dessen Haus in der Busoltstraße (heute ул. Ермака), zwei Straßen weiter von der Tiergartenstraße. Dort – zwischen der Tiergartenstraße, der Goltzallee und der Busoltstraße – in einer Wohngegend wohlhabender Bürger wuchs Hannah Arendt auf.
Hannah Arendt ging auf die Königin-Luise-Schule in der Landhofmeisterstraße (heute ул. С. Тюленина), das einzige Gymnasium Königsbergs für Mädchen, wo sie Latein und Griechisch lernen konnten. Das Schulgebäude steht noch und beherbergt heute die Kaliningrader Schule Nr. 41.
Die Schule lag so weit von ihrem Wohnhaus entfernt, dass sie nicht zu Fuß gehen konnte. Anzunehmen ist, dass sie mit der Straßenbahn zur Schule und zurück nach Hause fuhr und auf diese Weise jahrelang jeden Tag ihre Heimatstadt durchquerte. Intellektuelle Touristen aus verschiedenen Ländern, die sich für das Leben Hannah Arendts interessieren, könnten die Stadt auf ihren Spuren durchqueren, z. B. ihrem Schulweg folgen. Begleiten wir einmal Hannah Arendt auf ihrem Schulweg mit der Straßenbahn!
Von den 15 Straßenbahnlinien Königsbergs nahm die Schülerin Hannah sicherlich die Linie 6, die folgende Strecke befuhr: Königstor – Münzplatz – Mitteltragheim – Nordbahnhof – Tiergarten – Hammerweg (Королевские ворота – ул. Пролетарская – Северный вокзал – Зоопарк – проспект Мира). An dieser Strecke stehen heute noch Bauten aus deutscher Zeit, z. B. an der Busoltstraße/Ecke Schillerstraße das Tiepoltsche Waisenhaus (сиротский приют Типольтов), in dem Anfang des 20. Jahrhunderts bis zu 50 Kinder lebten. Heute befindet sich darin die Kaliningrader Abteilung der russischen Zentralbank (управление Центрального банка России по Калининградской области, ул. Шиллера 2). Gleich gegenüber stand das 1834 von Ludwig Rhesa für sozial schwache Studenten gestiftete „Resianum“ (приют для неимуших студентов «Резианум»); heute dient es als Schneiderei der Baltischen Flotte (швейное ателье Балтийского флота) (ул. Шиллера 3).
Wir wollen hier nur diejenigen Gebäude zeigen, die vor 1924 entstanden sind und die Hannah Arendt deshalb auf ihrem Schulweg gesehen hat. Sie ist wohl an der Ecke Busoltstraße/Hammerweg in einen Wagen der Straßenbahnlinie 6 eingestiegen und in Richtung Königstor gefahren. Als erstes kam sie an der Tiergartenstraße vorbei, wo sie bis 1920 gewohnt hatte, und sah dort, durch die grüne Schlucht des Freigrabens von der Hufenallee getrennt, das 1913-1915 erbaute Hufengymnasium für Jungen (heute Kaliningrader College für Städtebau) und daneben das schöne Direktorwohnhaus, eingebettet in alte Bäume aus der Zeit, als das Gebiet ein beliebtes Ausflugsziel der Königsberger war. Dann konnte sie auf der linken Seite den Eingang zum Königsberger Tiergarten sehen, in dem sie als Kind sicherlich oft gewesen ist, und fuhr anschließend am Theater vorbei, das bis 1923 Neues Luisentheater hieß, 1923 zur Komischen Oper umgebaut und 1927 als Neues Schauspielhaus eröffnet wurde. Die Linie 6 bog dann von der Hufenallee in den Hansaring ein; dort sah Hannah die 1916 erbaute Oberpostdirektion (heute Stab der Baltischen Flotte) und gleich daneben das 1913 – 1917 erbaute Land- und Amtsgericht (heute Kaliningrader Staatliche Technische Universität), vor dem die 1912 geschaffene Skulptur „Kämpfende Wisente“ des bekannten Tierbildhauers August Gaul stand, wo sie auch heute noch steht. Weiter fuhr die Straßenbahn über den Hansaplatz, wo Hannah hinten links an der Ecke der Händelstraße das 1912 – 1924 erbaute Polizeipräsidium (heute FSB) sehen konnte. Der Nordbahnhof wurde erst 1930 vollendet; an dieser Stelle sah Hannah Arendt den Cranzer Bahnhof, von dem aus die Züge nach Rauschen, Cranz und Labiau fuhren. Die Straßenbahn fuhr nun nach rechts in Richtung Steindamm und an dem 1923 erbauten Handelshof vorbei, der seit 1927 von der Stadtverwaltung als Stadthaus genutzt wurde; heute ist er das Gebäude der Kaliningrader Stadtverwaltung. Genau gegenüber lagen die Gebäude der Deutschen Ostmesse; das Hauptgebäude, das Haus der Technik, wurde im Jahre 1924 begonnen, als Hannah Arendt Abitur machte, und 1925 fertiggestellt.
Die Linie 6 bog nun nach links in die Wrangelstraße (heute ул. Черняховского) ein, fuhr geradeaus bis zur Neuen Kürassierkaserne und weiter nach rechts über den Mühlenplatz in die 3. Fließstraße hinein. Dort sah Hannah auf der linken Seite die Palästra Albertina, die Ende des 19. Jahrhunderts von dem Königsberger Arzt Dr. Friedrich Lange gestiftet wurde, der nach New York ausgewandert war. In der Palästra Albertina fanden die Studenten alles, was sie sich nur wünschen konnten, eine prächtige Wandelhalle, einen Speisesaal mit einer großen Terrasse und einer Treppe in den Garten, einen Billardsaal, einen Lesesaal, drei Fechtsäle und fünf Vereinssäle, eine Turnhalle und ein Schwimmbad. Das nur zum Teil wiederaufgebaute Gebäude dient heute als Sportklub der Baltischen Flotte und für den Jugendsport (ул. Рокоссовского 20).
An der nächsten Ecke fuhr die Straßenbahn mit der Schülerin Hannah nach links in die Kesselstraße und weiter in die Schönstraße. Dort sah sie auf der linken Straßenseite das 1897 fertiggestellte Gebäude der Baugewerkschule. Es ist gut erhalten und befindet sich heute im Besitz der Kaliningrader Gebietsverwaltung (ул. Генерала Соммера 27). Dann fuhr die Bahn nach rechts, den Mitteltragheim, die Burgstraße und die Münzstraße hinunter (ул Пролетарская), an der prächtige Häuser mit Restaurants und Cafés standen, deren Fassaden auf den Schlossteich blickten. Wer weiß, ob sich die Schülerin Hannah in der Konditorei Schwermer, Münzstr. 13, nicht manchmal etwas Königsberger Marzipan gekauft hat!
Die Straßenbahn fuhr dann direkt auf die Nordostseite des Schlosses zu, schwenkte dort scharf nach links und fuhr über die Französische Straße, in der das Haus E.T.A. Hoffmanns stand, den Bergplatz und den Rossgärter Markt hinweg in die Königstraße. Nach einem kurzen Stück geradeaus, an der Besselschule (Städtische Oberschule für Jungen) vorbei (heute Rachmaninoff- Musikcollege), musste Hannah aus der Straßenbahn aussteigen und zu Fuß nach rechts in die Landhofmeisterstraße gehen. Gleich am Anfang der Straße stand rechts die Königin-Luise-Schule, erst der Trakt mit der Turnhalle und Aula und dann das Hauptgebäude mit dem großen verzierten Portal in der Mitte, durch das Hannah in das weite Treppenhaus eintrat. Wenn Hannah noch einen kurzen Blick nach links warf, bevor sie in der Schule verschwand, sah sie unten auf der anderen Seite der Landhofmeisterstraße das 1901-1903 errichtete Gebäude der Ostpreußischen Landschaft (Восточно-прусское сельскохозяйственное кредитное общество; heute befinden sich dort Einrichtungen der Baltischen Flotte). Wenn sie aus der Schule kam, musste sie die Königsstraße überqueren, zur Haltestelle der Straßenbahnlinie 6 gehen und konnte dann die Strecke in Richtung Hammerweg bis zur Busoltstraße zurückfahren.
Welche Gedanken wird sich die Schülerin Hannah Arendt während der langen Straßenbahnfahrt hin und zurück durch ihre Heimatstadt gemacht haben? Mit vierzehn Jahren war ihr klar, dass sie Philosophie studieren wollte. Sie las Kant. Wahrscheinlich wird sie über philosophische Fragen nachgedacht haben.
Sie wird vielleicht auch die Menschen auf der Straße beobachtet haben, ihre Königsberger Mitbürger. Eine Straßenbahnfahrt bietet eine gute Gelegenheit, über die Menschen und die Welt nachzudenken. Dabei sah sie durch die Fenster der Straßenbahn ihre Heimatstadt Königsberg, die Stadt Immanuel Kants. Wie bei Kant sind auch bei ihr, so glaube ich, die Stadt Königsberg und die Philosophie in eins verschmolzen.
© 4. Dezember 2015 Gerfried Horst